Samstag, 25. April 2009

Leitplanken für den Werteunterricht

Reinhold Leinfelders persönliche Überlegungen zu Kreationismus, Biologismus und Integrationsaufgaben der Berliner Schulen:

Leitplanken für den Werteunterricht
(aus der Berliner Morgenpost vom 25.4.2009):

Kulturelle Vielfalt ist genauso wie biologische Vielfalt für uns überlebenswichtig. Dies kann aber nicht bedeuten, dass wir über bedenkliche Entwicklungen hinwegsehen dürfen, sondern dass ein geeigneter Integrationsmechanismus existieren muss. Der Werteunterricht ist hierbei wesentlich. Das Beispiel USA zeigt allerdings, wie es nicht funktioniert. Gerade weil dort Religionsunterricht nicht an Schulen gegeben werden darf, hat sich der wissenschaftsfeindliche Kreationismus in den USA durch die Hintertür breiten gesellschaftlichen Einfluss erarbeitet. Die modern ausgerichteten Kirchen erscheinen dort im Vergleich zu den vielen evangelikalen, oft wissenschaftsfeindlichen Gruppen schon fast in der Minderheit. In Deutschland ist dies wegen der Kooperation zwischen Kirche und Staat im Schulunterricht anders, die großen christlichen Kirchen, aber auch jüdische und viele muslimische Mitbürger sowie Anhänger anderer Konfessionen sind keinesfalls wissenschaftsfeindlich. Allerdings greifen auch hierzulande fundamentalreligiöse Kreationisten die Naturwissenschaften an, weil diese nicht mit ihrem Glauben kompatibel seien. Umgekehrt verkünden auch in Deutschland manche Wissenschaftler den Untergang der Aufklärung, solange überhaupt noch irgendwelche Religionen existieren. Dies drängt dann die modernen Kirchen, aber auch viele konfessionsfreie Menschen wiederum zu einem Skeptizismus hinsichtlich naturwissenschaftlicher Erklärungsansätze für gesellschaftliche Fragen. All dies fördert Vorbehalte gegenüber den Wissenschaften, deren Akzeptanz wir zur Lösung wesentlicher Zukunftsfragen wie Klima- und Biodiversitätskrise dringend benötigen. Keinesfalls dürfen derartige „Glaubenskriege“ auf dem Rücken der Kinder ausgetragen werden.
(> weiterlesen in der Berliner Morgenpost)

(Abbildung aus: www.andreame.at/blog?page=2)



Aus der Langversion, mit weiteren Aspekten:

... Es gilt aufzupassen: Kreationisten, welche die Evolutionstheorie ablehnen, nehmen inzwischen auch in Berlin Einfluss auf die Bildungsinhalte. So wird an der Corrie-ten-Boom-Realschule im Biologieunterricht vermittelt, dass eine evolutionäre Höherentwicklung im Laufe der Zeit mit der Bibel unvereinbar sei, für den Geschichtsunterricht seien die Prophezeiungen der Bibel zu berücksichtigen, im Literaturunterricht sei zu fragen, in welche neue Abhängigkeiten die Aufklärung den Menschen geführt habe (siehe hier). Lehrkräfte an migrantenreichen Schulen berichten hinter vorgehaltener Hand, dass manche Schüler bei Verwendung des Wortes Evolution den Unterricht verlassen. Möglicherweise spielt hierbei auch der Einfluss des nicht nur in der Türkei sehr bekannten Fundamentalkreationisten Harun Yahya, dessen wissenschaftsfeindliche Arbeiten auch an Berliner Bildungsinstitutionen kostenlos verteilt wurden, eine wichtige Rolle.

Als Naturwissenschaftler graut mir aber auch vor einem „evolutionären Humanismus“, der in der Etablierung einer „naturalistischen Ethik“ münden soll. Zwar stellen die Soziobiologie, die evolutionäre Psychologie sowie die Hirnforschung spannende aktuelle Forschungsfelder dar, die es uns vielleicht einmal erlauben werden, unsere Verhaltensweisen als situationsbezogene Mischungen aus biologischer Disposition und kultureller Freiheit besser zu verstehen. Auch gilt es in der Ethik evolutionäre Voraussetzungen zu berücksichtigen. Biologie alleine eignet sich allerdings keinesfalls als Grundlage für alternative Wertesysteme. Dennoch wird von den, ebenfalls zunehmend einflussreichen Protagonisten genau ein derartiges, biologisch-basiertes Wertesystem vehement und aggressiv gefordert. Christen werden von manchen gar wegen der Kommunionsfeier als Kannibalen, Religiöse aller Couleur als Religioten bezeichnet. Diese Art von „naturalistischer Ethik“ basiert auf falschen Analogieschlüssen, behauptet, moralische Wertungen seien nicht zulässig, Maßstab sei nur der direkte oder indirekte Eigennutz, wobei es genüge, fair zu sein. Persönlichkeitsrechte solle man zwar pragmatisch ab Geburt definieren, wissenschaftlich fundiert seien sie jedoch erst im Kleinkindalter, wenn Menschen autonom entscheiden könnten. Eine solchermaßen biologistische „Ethik“ darf nie verwirklicht werden, das wäre laut Vorsitzendem der evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sogar ein Arbeitsfeld für den Verfassungsschutz. Erfreulicherweise schütteln nicht nur religiöse, sondern auch viele konfessionsfreie und atheistische Mitbürger bei derartigem nur den Kopf.

Was hat dies alles mit der Pro Reli-Diskussion zu tun? Der Berliner Werteeunterricht erscheint mir derzeit unverdächtig, fundamentreligiösen oder biologistischen Einflüssen zu unterliegen. Die Ausbildung der Ethiklehrer ist längst professionalisiert. Der Lebenskundeunterricht wird vom toleranten Humanistischen Verband umgesetzt, der sich offensichtlich in weiten Teilen von dieser Art von „evolutionär-naturalistischen“ Pseudoethik distanziert, welche von der extrem religionskritischen Giordano Bruno-Stiftung als neue Leitkultur propagiert wird. Allerdings ist diese Stiftung mit dem Humanistischen Verband zumindest teilweise verquickt , insbesondere durch ein gemeinsam betriebenes Presseportal sowie durch gemeinsame Mitgliedschaft beider Gruppen im neuen atheistisch-humanistischen Dachverband KORSO. Der geschilderte Kreationismus-Unterricht findet bedenklicherweise an einer staatlich anerkannten Schule statt.

Der Werteunterricht ist also in einem zunehmend unübersichtlichen gesellschaftlichen Umfeld eingebettet. Dieser Gemengelage sollte aus den folgenden Gründen mit einer Wahlpflichtmöglichkeit zwischen Religion, Ethik und Lebenskunde begegnet werden:
...

(> Langversion weiterlesen)

Nachtrag: zur oben geschilderten Einschätzung der Situation in den USA passen die aktuellen Vorgänge in Texas, siehe z.B.:

"Evolutionstheorie im Unterricht. Kreationismus durch die Hintertür". Von Katja Gelinsky, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25.4.2009, siehe hier.

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