von Reinhold Leinfelder
Es darf vermutet werden, dass Thilo Sarrazin Charles Darwins Hauptwerk nicht gelesen hat. Und zugegeben, ich habe umgekehrt Sarrazins Buch nicht komplett gelesen. Es hat mir schon genügt, was ich am Freitag vor dem offiziellen Erscheinen in einem renommierten Berliner Buchladen sah: meterhohe Stapel des Buchs im Eingangsbereich, vor den Kassen und in den Leseecken. Ja, und das lange Reinlesen im Buchladen sowie die Vorabpublikationen waren genügend aufschlussreich. Warum aber erwähne ich dies hier, in diesem Blog geht es doch um Dinge rund um die Evolutionstheorie? Nun, Sarrazin beruft sich bekanntermaßen in diesem Buch auf Selektion, Genetik, Vererbung von Intelligenz usw.. Darwin und die daraus abgeleitete und ständig modernisierte Evolutionstheorie hat er dabei jedoch überhaupt nicht verstanden, wie er sich nun vielfach nachweisen lassen musste. Statt dessen argumentiert er mit einem Sozialdarwinismus (eigentlich richtiger einem Spencerismus) schlimmster Sorte.
Für diejenigen, die davon nicht überzeugt sein sollten, oder die "Dysgenik"-Argumentation Sarrazins nicht kritisch finden, sei nachfolgend nur auf wenige, exemplarische Zeitungsartikel verwiesen, die vielleicht ein klareres Bild ergeben.
Das im Kontext des Darwin-Blogs wirklich Ärgerliche an Sarrazins "Thesen" ist jedoch, dass auch nach einem (Darwin-)Jahr intensiver Diskussion um Bedeutung, Übertragbarkeit und Grenzen der Erklärungsfähigkeit der biologischen Evolutionstheorie, sowie nach vielfältigen Klarstellungen, dass Mensch und menschliches Verhalten nicht allein "biologistisch" erklärbar sind (was auch von differenziert vorgehenden Soziobiologen und Evolutionspsychologen so gesehen wird), nun sogar eine quasi-Eugenik-Debatte wieder salonfähig wird. Wie hoch oder niedrig die Defizite einer deutschen Migrationspolitik auch sein mögen, was ich an dieser Stelle nicht weiter diskutieren möchte - mit derartiger pseudowissenschaftlicher Polemik und derart fehlerhafter Datenverwendung wie sie Herr Sarrazin betreibt, verhindert man nicht nur eine differenzierte Debatte um Integration, sondern untergräbt letztendlich auch das Vertrauen in wissenschaftsbasiertes Arbeiten. Herr Sarrazin fördert damit m.E. indirekt auch wieder Vorbehalte gegen die Wissenschaft und verstärkt den weitverbreiteten Wissenschaftsskeptizismus. Auch dies ist ein Grund, warum nachfolgend einige Zeitungsausschnitte aufgeführt werden. Mir ist klar, dass Auszüge aus Artikeln ggf. nicht den Tenor des Gesamtartikels wiedergeben könnten, daher werden auch, sofern vorhanden, die Links zu den Online-Versionen der Artikel angegeben. Ich empfehle diese auch zu lesen.
Christian Geyer war wohl der erste, der den Sarrazinschen Biologismus beim Namen nannte. Er schrieb dazu zu Sarrazins Thesen unter dem Titel "So wird Deutschland dumm" in der FAZ vom 26.8.2010.
Auszüge: "... Tatsächlich ist das Elementare bei Sarrazin das Biologische. Kulturell ist bei ihm ein Deckwort für genetisch. Hat man dies begriffen, liest man Sarrazins Sorge um die „kulturelle Identität“, die „kulturelle Substanz“ und den „Volkscharakter“ Deutschlands mit anderen, den richtigen biologischen Augen. Obwohl halb verschwiegen, tritt die These in seinem Buch klar hervor: Die islamische Immigration nach Deutschland muss gestoppt werden – und zwar aus „letztlich“ genetischen Gründen. ... Das ganze Buch liest sich wie ein antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage. Wie ein verdeckt operierender Detektiv versucht Sarrazin, aus „elementarer Sicht“ belastendes Material gegen Türken, Afrikaner und Araber zusammenzustellen. Um den Leser für die Genetik der Intelligenz zu gewinnen, legt Sarrazin die jüdischen Ursprünge der Intelligenzforschung und deren Verbot durch die Nazis dar. ... Jedes Kapitel bietet eine weitere Facette des biologistischen Panoptikums. „Das Problem ist nicht, dass die Zahl der Nachfahren von Menschen mit hoher Bildung von Generation zu Generation schrumpft“, schreibt Sarrazin. „Das wäre nicht so wichtig, wenn alle Menschen gleich begabt wären, dann wäre Bildung nämlich eine reine Erziehungsfrage. Da Bildungsgrad und erbliche Intelligenz aber in einem befruchtenden Zusammenhang stehen, muss es mit der Zeit abträglich für das intellektuelle Potential der Bevölkerung sein, wenn Menschen mit hohem Bildungsgrad andauernd eine unterdurchschnittliche und Menschen mit niedrigem Bildungsgrad andauernd eine überdurchschnittliche Fertilität haben.“
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Interview mit dem Genetiker Markus Nöthen im Kölner Stadtanzeiger vom 31.8.2010:
„Es gibt keinen Volks-IQ“. Der Bonner Genetiker Markus Nöthen betont, dass Lernfähigkeit keine Frage der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozioalen Gruppe ist.
Auszug: "Herr Professor Nöthen, Thilo Sarrazin beschreibt Migranten-Gruppen wie Araber oder Türken als bildungsfern und lernschwach und leitet diese Eigenschaften auch von genetisch vererbten Anlagen her. Sind solche Thesen wissenschaftlich haltbar?
MARKUS NÖTHEN: Nein. Sarrazin bezieht sich auf Studien, nach denen 50 bis 80 Prozent der Intelligenz genetisch begründet seien. Fest steht, dass Intelligenz zu gewissen Teilen vererbt werden kann, es durch die Vielzahl der beteiligten Gene aber bei Nachkommen immer wieder zu neuen Kombinationen kommt. Weniger intelligente Eltern können hochintelligente Kinder haben und umgekehrt. Die Bandbreite ist riesengroß. Außerdem spielen die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen, in denen Kinder aufwachsen, für die Intelligenz ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn Migranten aus ländlichen Gebieten ohne nennenswerte Bildungsangebote zu uns kommen, ist deren Bildungstand logischerweise im Durchschnitt eher gering. Aber über die durchschnittliche Intelligenz dieser Gruppe sagt das überhaupt nichts aus. Sie wird eine ähnliche Zusammensetzung aus intelligenten und weniger intelligenten Mitgliedern aufweisen wie die Bevölkerung insgesamt."
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Frank Schirrmacher schrieb am 1.9.2010 in der FAZ:
Sarrazins Quellen. Biologismus macht die Gesellschaft dümmer
Als hätte es alle Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gegeben: Im Innersten seines Buches hat Thilo Sarrazin eine vulgärdarwinistische Gesellschaftstheorie versteckt. Der Autor verschleiert die Terminologie und geht fahrlässig mit seinen Quellen um.
(Auszüge:".... Ein Kernsatz des Buches lautet: „Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche, natürliche Zuchtwahl im Sinne von ,survival of the fittest‘, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.“ .... Das sind unerhörte Sätze. Und Sarrazin weiß das. Es ist schlichtweg unseriös, wie fahrlässig er mit seinen Quellen umgeht.
Damit der Kunde nicht merkt, wohin die Reise mit Sarrazin geht ... Sarrazin meint faktisch „Entartung“ – daran kann angesichts der Quelle kein Zweifel bestehen –, aber er nennt das Wort nicht. So geht es einem immer wieder mit diesem Buch. Es täuscht über seine Grundlagen. ... Sarrazin blendet eine jahrhundertelange, zum Teil verheerende wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte darwinistischer Theorien aus und schließt an sie an, als seien sie Erkenntnis von heute. Damit es nicht auffällt, verschleiert er die Terminologie. ... ... Die Amerikaner, die 1914 mit der Diskussion einer Einwanderungspolitik auf erbbiologischer Grundlage begannen, haben dies bitter bereut .... "
> zum ganzen Artikel. (Link inzwischen inaktiv, siehe ggf. hier)
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Adrian Kreye und Christian Weber schreiben in der Süddeutschen vom 2.9.2010 unter dem Titel "Gehirn und Erbse" zum Thema Intelligenz im Sarrazinschen Kontext: "Es gibt ja auch kein Strick-Gen: Thilo Sarrazin politisiert mit seinen Aussagen über erbliche Intelligenz wissenschaftliche Ungewissheiten. Und was ist überhaupt Intelligenz?"
Auszüge: "... Und deswegen sind solche volkstümlichen Debatten kein Bildungserfolg, sondern ein Problem. Thilo Sarrazin hat in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" ein rhetorisches Minenfeld betreten. Er führt die Naturwissenschaften als Zeugen für seine gesellschaftspolitischen Thesen vor. ... "Es gibt keine Einbahnstraße vom Genom zur Persönlichkeit, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes Wirkungsnetz", kommentiert der Berliner Psychologe Asendorpf. Dass ein Gen direkt auf eine Persönlichkeitseigenschaft wie Intelligenz wirke, sei ähnlich abwegig wie die Annahme, es müsse sich ein Strick-Gen im menschlichen Genom verbergen, nur deshalb, weil fast ausschließlich Frauen diese Tätigkeit ausüben und das Geschlecht sich nun mal in aller Regel rein genetisch entscheide. ... im Übrigen gibt es für die Warner vor dem intellektuellen Untergang des Abendlandes noch eine interessante Nachricht: In den westlichen Kulturen nahm zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der durchschnittliche IQ beständig zu. Und dieser Zuwachs von etwa drei Punkten pro Jahrzehnt war zu schnell, um ihn genetisch zu erklären. Vermutlich beruhte dieser sogenannte Flynn-Effekt auf den sich ständig verbessernden Lebensbedingungen von Schwangeren und Kleinkindern, wohl deshalb korreliert er auch mit der ständig wachsenden Körpergröße.
So wissenschaftlich differenziert argumentiert Thilo Sarrazin also gar nicht. Er führt dann eben doch Charles Darwin und Gregor Mendel ins Feld, deren genetische Grundlagenforschungen aus dem 19. Jahrhundert zunächst einmal den Erbsen und den Schnabeltieren galten. Die großen Namen der modernen Genetik und Evolutionsbiologie, Steven Pinker, George Church oder Craig Venter, die Debatten die sie auslösten, die fehlen. Denn die Unsicherheiten der Wissenschaft passen nicht in die schlichte Rhetorik von "Deutschland schafft sich ab"."
> zum ganzen Artikel.
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Interview mit der Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, auf die sich Sarrazin beruft (FAZ vom 2.9.2010): Jeder kann das große Los ziehen. Thilo Sarrazin beruft sich für sein Programm der positiven Selektion auf die Lernforschung der Psychologin Elsbeth Stern. Sie lehnt diese Vereinnahmung ab. Es mache keinen Sinn, davon zu sprechen, Intelligenz sei zwischen 50 und 80 Prozent erblich.
> zum ganzen Interview
(Link ist inzwischen deaktiv, > hier kostenpflichtig)
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Der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland hat am 2.9.2010 ebenfalls deutlich die Vereinnahmung der Evolutionswissenschaften und Genetik durch Sarrazin zurückgewiesen:
VBIO: Thilo Sarrazin hat grundlegende genetische Zusammenhänge falsch verstanden.
Auszüge: "... In Bezug auf die Aussagen Sarrazins zur Genetik verwehrt sich der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO e. V.) entschieden gegen jede politische Instrumentalisierung biologischer Fakten. – Sei es durch Thilo Sarrazin selbst, sei es durch andere Teilnehmer der derzeit laufenden öffentlichen und medialen Debatte. Die genetischen Thesen von Herrn Sarrazin sind nicht mit den modernen Erkenntnissen zur Evolutionsbiologie des Menschen vereinbar.
Evolutionsbiologisch gesehen ist der Mensch eine der genetisch homogensten Spezies die es auf der Erde gibt. Im Vergleich zu anderen Spezies sind die Unterschiede zwischen Populationsgruppen sehr gering. Tatsächlich sind die Unterschiede innerhalb von Populationsgruppen etwa 5-fach höher als zwischen ihnen.
.... Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. Das kann zu großen Unterschieden innerhalb einer Gruppe führen, wirkt aber gleichzeitig im Vergleich zwischen Gruppen wie ein Puffer. Wissenschaftlich formuliert: die Varianz innerhalb der Gruppe übersteigt die Unterschiede zwischen Gruppen bei weitem. Selbst wenn es zu lokalen Veränderungen der Häufigkeit von Genvarianten kommen sollte (wie z.B. durch Inzucht in Alpentälern), würden diese Verteilungsunterschiede im Falle von Rückkreuzungen schnell wieder ausgeglichen (dafür reicht bereits ein 1%-iger Genfluss). Es ist daher davon auszugehen, dass jede Volksgruppe grundsätzlich das gleiche genetische Potential für Intelligenzleistungen hat."
Zum ganzen Artikel
Die VBIO-Stellungnahme wurde auch in Tagesspiegel online publiziert.
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Allan Posener fragt sich in der WELT (2.9.10) in einem lesenswerten Artikel sogar, warum Sarrazin antisemitische Stereotypen transportiert.
> zum Artikel
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Und zum Schluss sei noch auf den sehr dezidierten, m.E. aber durchaus gerechtfertigten Artikel im aktuellen SZ-Magazin (3.9.2010) hingewiesen, in dem sich Andreas Bernard u.a. überaus wundert, warum Spiegel und Bild derart lange Passagen dieses Buchs abgedruckt haben und damit eine öffentliche Diskussion auslösten, die das Buch noch vor Erscheinen zum Verkaufsschlager machte (Artikel leider nicht online verfügbar).
Auszüge: "... In einem PISA-Test für Sachbücher läge Deutschland schafft sich ab ungefähr auf dem Platz von Bremen, was seine Lesbarkeit und die Sorgfältigkeit des Lektorats betrifft. Dieses Buch ist ein wucherndes Gebilde: in seiner Fehlerhaftigkeit überraschend bildungsfern, in seiner Dickleibigkeit fast adipös, dabei allerdings so fortpflanzungsfreudig, dass der Argumentatsionskeim eines Kurzreferats zu einem Riesenwälzer angewachsen ist. Nimmt man noch die Perspektive des Erzählers hinzu, die es an Verengung mit dem Augenschlitz einer Burka lässig aufnehmen kann, gleicht Thilo Sarrazins Buch eigentlich exakt seinem Feindbild: ein übergewichtiger, fertiler Religionsfanatiker. .... Ein Buch prägt also die gegenwärtige Diskussion, das in Vokabular und Argumentation nahtlos an die rassenbiologischen STandardwerke der Zeit um 1900 anschließt. Man müsste in den Traktaten eines Alfred Ploetz, Erfinder des Wortes "Rassenhygiene", nur das Wort "slawisch" durch "muslimisch" und "Rasse" durch "Glauben" ersetzten und hätte dieselben Hypothesen. ... Seit 70 Jahren diskreditierte Scchlagwörter wie "Eugenik" etwa kommen kein einziges Mal vor. DEr Seltene und daher ungefärdete Gegenbegriff der "Dysgenik" fällt dagegen ständig, in dem Zusammenhang, dass die ungehinderte Fortpflanzung muslimischer Einwanderer zur Schädigung des deutschen Erbguts führt.
Es gäbe eigentlich nur eine angemessene Reaktion auf Deutschland schafft sich ab: Schweigen"
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Und schweigen wird der Ach du lieber Darwin-Blog zum Thema Sarrazin nun auch wieder.
(Link-Fix vom27.4.2016)
Es darf vermutet werden, dass Thilo Sarrazin Charles Darwins Hauptwerk nicht gelesen hat. Und zugegeben, ich habe umgekehrt Sarrazins Buch nicht komplett gelesen. Es hat mir schon genügt, was ich am Freitag vor dem offiziellen Erscheinen in einem renommierten Berliner Buchladen sah: meterhohe Stapel des Buchs im Eingangsbereich, vor den Kassen und in den Leseecken. Ja, und das lange Reinlesen im Buchladen sowie die Vorabpublikationen waren genügend aufschlussreich. Warum aber erwähne ich dies hier, in diesem Blog geht es doch um Dinge rund um die Evolutionstheorie? Nun, Sarrazin beruft sich bekanntermaßen in diesem Buch auf Selektion, Genetik, Vererbung von Intelligenz usw.. Darwin und die daraus abgeleitete und ständig modernisierte Evolutionstheorie hat er dabei jedoch überhaupt nicht verstanden, wie er sich nun vielfach nachweisen lassen musste. Statt dessen argumentiert er mit einem Sozialdarwinismus (eigentlich richtiger einem Spencerismus) schlimmster Sorte.
Für diejenigen, die davon nicht überzeugt sein sollten, oder die "Dysgenik"-Argumentation Sarrazins nicht kritisch finden, sei nachfolgend nur auf wenige, exemplarische Zeitungsartikel verwiesen, die vielleicht ein klareres Bild ergeben.
Das im Kontext des Darwin-Blogs wirklich Ärgerliche an Sarrazins "Thesen" ist jedoch, dass auch nach einem (Darwin-)Jahr intensiver Diskussion um Bedeutung, Übertragbarkeit und Grenzen der Erklärungsfähigkeit der biologischen Evolutionstheorie, sowie nach vielfältigen Klarstellungen, dass Mensch und menschliches Verhalten nicht allein "biologistisch" erklärbar sind (was auch von differenziert vorgehenden Soziobiologen und Evolutionspsychologen so gesehen wird), nun sogar eine quasi-Eugenik-Debatte wieder salonfähig wird. Wie hoch oder niedrig die Defizite einer deutschen Migrationspolitik auch sein mögen, was ich an dieser Stelle nicht weiter diskutieren möchte - mit derartiger pseudowissenschaftlicher Polemik und derart fehlerhafter Datenverwendung wie sie Herr Sarrazin betreibt, verhindert man nicht nur eine differenzierte Debatte um Integration, sondern untergräbt letztendlich auch das Vertrauen in wissenschaftsbasiertes Arbeiten. Herr Sarrazin fördert damit m.E. indirekt auch wieder Vorbehalte gegen die Wissenschaft und verstärkt den weitverbreiteten Wissenschaftsskeptizismus. Auch dies ist ein Grund, warum nachfolgend einige Zeitungsausschnitte aufgeführt werden. Mir ist klar, dass Auszüge aus Artikeln ggf. nicht den Tenor des Gesamtartikels wiedergeben könnten, daher werden auch, sofern vorhanden, die Links zu den Online-Versionen der Artikel angegeben. Ich empfehle diese auch zu lesen.
Christian Geyer war wohl der erste, der den Sarrazinschen Biologismus beim Namen nannte. Er schrieb dazu zu Sarrazins Thesen unter dem Titel "So wird Deutschland dumm" in der FAZ vom 26.8.2010.
Auszüge: "... Tatsächlich ist das Elementare bei Sarrazin das Biologische. Kulturell ist bei ihm ein Deckwort für genetisch. Hat man dies begriffen, liest man Sarrazins Sorge um die „kulturelle Identität“, die „kulturelle Substanz“ und den „Volkscharakter“ Deutschlands mit anderen, den richtigen biologischen Augen. Obwohl halb verschwiegen, tritt die These in seinem Buch klar hervor: Die islamische Immigration nach Deutschland muss gestoppt werden – und zwar aus „letztlich“ genetischen Gründen. ... Das ganze Buch liest sich wie ein antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage. Wie ein verdeckt operierender Detektiv versucht Sarrazin, aus „elementarer Sicht“ belastendes Material gegen Türken, Afrikaner und Araber zusammenzustellen. Um den Leser für die Genetik der Intelligenz zu gewinnen, legt Sarrazin die jüdischen Ursprünge der Intelligenzforschung und deren Verbot durch die Nazis dar. ... Jedes Kapitel bietet eine weitere Facette des biologistischen Panoptikums. „Das Problem ist nicht, dass die Zahl der Nachfahren von Menschen mit hoher Bildung von Generation zu Generation schrumpft“, schreibt Sarrazin. „Das wäre nicht so wichtig, wenn alle Menschen gleich begabt wären, dann wäre Bildung nämlich eine reine Erziehungsfrage. Da Bildungsgrad und erbliche Intelligenz aber in einem befruchtenden Zusammenhang stehen, muss es mit der Zeit abträglich für das intellektuelle Potential der Bevölkerung sein, wenn Menschen mit hohem Bildungsgrad andauernd eine unterdurchschnittliche und Menschen mit niedrigem Bildungsgrad andauernd eine überdurchschnittliche Fertilität haben.“
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Interview mit dem Genetiker Markus Nöthen im Kölner Stadtanzeiger vom 31.8.2010:
„Es gibt keinen Volks-IQ“. Der Bonner Genetiker Markus Nöthen betont, dass Lernfähigkeit keine Frage der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozioalen Gruppe ist.
Auszug: "Herr Professor Nöthen, Thilo Sarrazin beschreibt Migranten-Gruppen wie Araber oder Türken als bildungsfern und lernschwach und leitet diese Eigenschaften auch von genetisch vererbten Anlagen her. Sind solche Thesen wissenschaftlich haltbar?
MARKUS NÖTHEN: Nein. Sarrazin bezieht sich auf Studien, nach denen 50 bis 80 Prozent der Intelligenz genetisch begründet seien. Fest steht, dass Intelligenz zu gewissen Teilen vererbt werden kann, es durch die Vielzahl der beteiligten Gene aber bei Nachkommen immer wieder zu neuen Kombinationen kommt. Weniger intelligente Eltern können hochintelligente Kinder haben und umgekehrt. Die Bandbreite ist riesengroß. Außerdem spielen die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen, in denen Kinder aufwachsen, für die Intelligenz ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn Migranten aus ländlichen Gebieten ohne nennenswerte Bildungsangebote zu uns kommen, ist deren Bildungstand logischerweise im Durchschnitt eher gering. Aber über die durchschnittliche Intelligenz dieser Gruppe sagt das überhaupt nichts aus. Sie wird eine ähnliche Zusammensetzung aus intelligenten und weniger intelligenten Mitgliedern aufweisen wie die Bevölkerung insgesamt."
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Frank Schirrmacher schrieb am 1.9.2010 in der FAZ:
Sarrazins Quellen. Biologismus macht die Gesellschaft dümmer
Als hätte es alle Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gegeben: Im Innersten seines Buches hat Thilo Sarrazin eine vulgärdarwinistische Gesellschaftstheorie versteckt. Der Autor verschleiert die Terminologie und geht fahrlässig mit seinen Quellen um.
(Auszüge:".... Ein Kernsatz des Buches lautet: „Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche, natürliche Zuchtwahl im Sinne von ,survival of the fittest‘, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.“ .... Das sind unerhörte Sätze. Und Sarrazin weiß das. Es ist schlichtweg unseriös, wie fahrlässig er mit seinen Quellen umgeht.
Damit der Kunde nicht merkt, wohin die Reise mit Sarrazin geht ... Sarrazin meint faktisch „Entartung“ – daran kann angesichts der Quelle kein Zweifel bestehen –, aber er nennt das Wort nicht. So geht es einem immer wieder mit diesem Buch. Es täuscht über seine Grundlagen. ... Sarrazin blendet eine jahrhundertelange, zum Teil verheerende wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte darwinistischer Theorien aus und schließt an sie an, als seien sie Erkenntnis von heute. Damit es nicht auffällt, verschleiert er die Terminologie. ... ... Die Amerikaner, die 1914 mit der Diskussion einer Einwanderungspolitik auf erbbiologischer Grundlage begannen, haben dies bitter bereut .... "
> zum ganzen Artikel. (Link inzwischen inaktiv, siehe ggf. hier)
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Adrian Kreye und Christian Weber schreiben in der Süddeutschen vom 2.9.2010 unter dem Titel "Gehirn und Erbse" zum Thema Intelligenz im Sarrazinschen Kontext: "Es gibt ja auch kein Strick-Gen: Thilo Sarrazin politisiert mit seinen Aussagen über erbliche Intelligenz wissenschaftliche Ungewissheiten. Und was ist überhaupt Intelligenz?"
Auszüge: "... Und deswegen sind solche volkstümlichen Debatten kein Bildungserfolg, sondern ein Problem. Thilo Sarrazin hat in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" ein rhetorisches Minenfeld betreten. Er führt die Naturwissenschaften als Zeugen für seine gesellschaftspolitischen Thesen vor. ... "Es gibt keine Einbahnstraße vom Genom zur Persönlichkeit, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes Wirkungsnetz", kommentiert der Berliner Psychologe Asendorpf. Dass ein Gen direkt auf eine Persönlichkeitseigenschaft wie Intelligenz wirke, sei ähnlich abwegig wie die Annahme, es müsse sich ein Strick-Gen im menschlichen Genom verbergen, nur deshalb, weil fast ausschließlich Frauen diese Tätigkeit ausüben und das Geschlecht sich nun mal in aller Regel rein genetisch entscheide. ... im Übrigen gibt es für die Warner vor dem intellektuellen Untergang des Abendlandes noch eine interessante Nachricht: In den westlichen Kulturen nahm zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der durchschnittliche IQ beständig zu. Und dieser Zuwachs von etwa drei Punkten pro Jahrzehnt war zu schnell, um ihn genetisch zu erklären. Vermutlich beruhte dieser sogenannte Flynn-Effekt auf den sich ständig verbessernden Lebensbedingungen von Schwangeren und Kleinkindern, wohl deshalb korreliert er auch mit der ständig wachsenden Körpergröße.
So wissenschaftlich differenziert argumentiert Thilo Sarrazin also gar nicht. Er führt dann eben doch Charles Darwin und Gregor Mendel ins Feld, deren genetische Grundlagenforschungen aus dem 19. Jahrhundert zunächst einmal den Erbsen und den Schnabeltieren galten. Die großen Namen der modernen Genetik und Evolutionsbiologie, Steven Pinker, George Church oder Craig Venter, die Debatten die sie auslösten, die fehlen. Denn die Unsicherheiten der Wissenschaft passen nicht in die schlichte Rhetorik von "Deutschland schafft sich ab"."
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Interview mit der Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, auf die sich Sarrazin beruft (FAZ vom 2.9.2010): Jeder kann das große Los ziehen. Thilo Sarrazin beruft sich für sein Programm der positiven Selektion auf die Lernforschung der Psychologin Elsbeth Stern. Sie lehnt diese Vereinnahmung ab. Es mache keinen Sinn, davon zu sprechen, Intelligenz sei zwischen 50 und 80 Prozent erblich.
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Der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland hat am 2.9.2010 ebenfalls deutlich die Vereinnahmung der Evolutionswissenschaften und Genetik durch Sarrazin zurückgewiesen:
VBIO: Thilo Sarrazin hat grundlegende genetische Zusammenhänge falsch verstanden.
Auszüge: "... In Bezug auf die Aussagen Sarrazins zur Genetik verwehrt sich der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO e. V.) entschieden gegen jede politische Instrumentalisierung biologischer Fakten. – Sei es durch Thilo Sarrazin selbst, sei es durch andere Teilnehmer der derzeit laufenden öffentlichen und medialen Debatte. Die genetischen Thesen von Herrn Sarrazin sind nicht mit den modernen Erkenntnissen zur Evolutionsbiologie des Menschen vereinbar.
Evolutionsbiologisch gesehen ist der Mensch eine der genetisch homogensten Spezies die es auf der Erde gibt. Im Vergleich zu anderen Spezies sind die Unterschiede zwischen Populationsgruppen sehr gering. Tatsächlich sind die Unterschiede innerhalb von Populationsgruppen etwa 5-fach höher als zwischen ihnen.
.... Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. Das kann zu großen Unterschieden innerhalb einer Gruppe führen, wirkt aber gleichzeitig im Vergleich zwischen Gruppen wie ein Puffer. Wissenschaftlich formuliert: die Varianz innerhalb der Gruppe übersteigt die Unterschiede zwischen Gruppen bei weitem. Selbst wenn es zu lokalen Veränderungen der Häufigkeit von Genvarianten kommen sollte (wie z.B. durch Inzucht in Alpentälern), würden diese Verteilungsunterschiede im Falle von Rückkreuzungen schnell wieder ausgeglichen (dafür reicht bereits ein 1%-iger Genfluss). Es ist daher davon auszugehen, dass jede Volksgruppe grundsätzlich das gleiche genetische Potential für Intelligenzleistungen hat."
Zum ganzen Artikel
Die VBIO-Stellungnahme wurde auch in Tagesspiegel online publiziert.
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Allan Posener fragt sich in der WELT (2.9.10) in einem lesenswerten Artikel sogar, warum Sarrazin antisemitische Stereotypen transportiert.
> zum Artikel
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Und zum Schluss sei noch auf den sehr dezidierten, m.E. aber durchaus gerechtfertigten Artikel im aktuellen SZ-Magazin (3.9.2010) hingewiesen, in dem sich Andreas Bernard u.a. überaus wundert, warum Spiegel und Bild derart lange Passagen dieses Buchs abgedruckt haben und damit eine öffentliche Diskussion auslösten, die das Buch noch vor Erscheinen zum Verkaufsschlager machte (Artikel leider nicht online verfügbar).
Auszüge: "... In einem PISA-Test für Sachbücher läge Deutschland schafft sich ab ungefähr auf dem Platz von Bremen, was seine Lesbarkeit und die Sorgfältigkeit des Lektorats betrifft. Dieses Buch ist ein wucherndes Gebilde: in seiner Fehlerhaftigkeit überraschend bildungsfern, in seiner Dickleibigkeit fast adipös, dabei allerdings so fortpflanzungsfreudig, dass der Argumentatsionskeim eines Kurzreferats zu einem Riesenwälzer angewachsen ist. Nimmt man noch die Perspektive des Erzählers hinzu, die es an Verengung mit dem Augenschlitz einer Burka lässig aufnehmen kann, gleicht Thilo Sarrazins Buch eigentlich exakt seinem Feindbild: ein übergewichtiger, fertiler Religionsfanatiker. .... Ein Buch prägt also die gegenwärtige Diskussion, das in Vokabular und Argumentation nahtlos an die rassenbiologischen STandardwerke der Zeit um 1900 anschließt. Man müsste in den Traktaten eines Alfred Ploetz, Erfinder des Wortes "Rassenhygiene", nur das Wort "slawisch" durch "muslimisch" und "Rasse" durch "Glauben" ersetzten und hätte dieselben Hypothesen. ... Seit 70 Jahren diskreditierte Scchlagwörter wie "Eugenik" etwa kommen kein einziges Mal vor. DEr Seltene und daher ungefärdete Gegenbegriff der "Dysgenik" fällt dagegen ständig, in dem Zusammenhang, dass die ungehinderte Fortpflanzung muslimischer Einwanderer zur Schädigung des deutschen Erbguts führt.
Es gäbe eigentlich nur eine angemessene Reaktion auf Deutschland schafft sich ab: Schweigen"
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