Donnerstag, 4. November 2010

Das Anthropozän am Museum für Naturkunde Berlin

von Reinhold Leinfelder

Das Buch "Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten" wurde Ende September 2010 am Museum für Naturkunde Berlin erstmalig vorgestellt. Der Name des Buchs lehnt sich an den Vorschlag einer Wissenschaftlergruppe um Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen an, das durch menschliche Prägung bestimmte Zeitalter der Erde als geologische Zeit des Anthropozäns zu bezeichnen.

Der Wissenschaftsautor Christian Schwägerl schrieb ein Buch, welches nicht nur als ganz besonderer Beitrag zum Verhältnis zwischen biologischer und kultureller Evolution angesehen kann, sondern welches nach dem für viele überraschenden Erfolg des UN-Gipfels zur Biologischen Vielfalt in Nagoya, Japan als visionäres Buch für die zukünftige "Handhabung" unseres Planeten dienen kann.  Rezensionen zum Buch werden im heutigen  Beitrag "Menschenzeit - Humboldt reloaded" des Vielfalter-Blogs der Leibniz-Gemeinschaft vorgestellt, nachfolgend finden Sie mein Grußwort sowie einen Filmbeitrag zur Buchvorstellung im Museum für Naturkunde.

Nach dem Lesen des visionären Buches und der Vorstellung in unserem Hause hatte ich sofort eine eigene Vision: eine transdisziplinären Ausstellung "Anthropozän - Natur und Kultur in der neuen Menschenzeit", für die Museen für Naturkunde, Technik, Kunst- und Kulturgeschichte eng mit anderen Institutionen, aber auch mit Wissenschaft, Medien und Gesellschaft zusammenarbeiten, um Visionen anschaubar und greifbar zu machen. Ein bisschen Menschenzeit wird bis zu einer Realisierung allerdings noch vergehen müssen. Anlässlich des UN-Erdgipfels Rio 2012 oder zum Start für ein Humboldt-Forum, in dem Sammlungen und Wissenschaft zusammenfänden, wäre dies doch eine besonders geeignete Form: Humboldt reloaded.



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Grußwort von Reinhold Leinfelder zur Buchvorstellung am 27.9.2010 im Museum für Naturkunde (leicht gekürzt)

Als Generaldirektor des Museums für Naturkunde, aber auch ganz persönlich mich freue ich mich sehr, dass so viele zur heutigen Buchvorstellung gekommen sind und möchte Sie hierzu ganz herzlich in unserem Sauriersaal begrüßen.

Ich freue mich überaus, dass fast alle für das Thema wichtige gesellschaftlichen Gruppen hochkarätig vertreten sind, darunter:
  • Die UN, vertreten durch ihren UNEP Exekutivsekretär Achim Steiner, der ja auch als Protagonist heute abend auftritt,
  • Vertreter aus Botschaften, Ministerien, Parlamenten, Parteien, 
  • Vertreter  aus Umwelt- und Naturschutzverbänden und Stiftungen,
  • Kollegen aus dem WBGU, einem der Beratungsorgane der Bundesregierung
  • Besonders wichtig für das Thema ist aber auch, dass etliche Vertreter von  Wissenschaft und Wissenschaftsorganisationen gekommen sind.

  • Und als Multiplikatoren für die Wissenschaft liegen uns dieVertreter der Text, Bild- und TV-Medien  und der Verlage ganz besonders am Herzen. ..... 

Links: Christian Schwägerl, rechts Achim Steiner
Darunter insbesondere unser Autor, Herr Christian Schwägerl, der Ihnen natürlich als renommierter und engagierter Wissenschaftsjournalist sehr bekannt ist. Er ist so bescheiden, dass er seine früheren und derzeitigen Tätigkeiten am liebsten gar nicht beleuchtet sähe. Ein bisschen, also unvollständig, muss es aber doch sein: Er begann bei einer Lokalzeitung, wurde rasch Preisträger eines Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, konnte mit diesem Stipendium eine Recherchereise nach Neuseeland machen, ging an die Deutsche Journalistenschule in München, war dann freier Mitarbeiter bei GEO und der Süddeutscher Zeitung, hat parallel noch in Berlin und England studiert und mit einem Masterabschluss Biodiversität  abgeschlossen. Bei der FAZ war er dann insbesondere für die Schwerpunktthemen Wissenschaft, Biopolitik und Forschungspolitik zuständig, seit 2008 nun beim Spiegel für die Themen Wissenschaft, Umwelt und Energie. Diverse Preise, wie schon sehr früh die Herbert-Weichmann-Medaille für journalistische Talente oder den Georg-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus zeichnen ihn weiterhin aus.

Aber ich sollte Ihnen wohl noch eine Frage beantworten. Passt es denn, eine Buchvorstellung zu einem Zukunftsthema hier im Museum für Naturkunde durchzuführen?
  • Sind die Saurier aus längstvergangenen Zeiten da nicht eher unpassend?
  • Oder sind sie nicht gerade eine Mahnung, damit wir nicht genauso aussterben?
Nein, so plakativ und populistisch sehen wir die Zusammenhänge nicht.
 Viel wichtiger waren uns folgende Punkte (ohne der Buchvorstellung zu sehr vorgreifen zu wollen):
  • Das Buch von Christian Schwägerl behandelt Zeit, Zeitdimensionen, Beschleunigungen, Entschleunigungen, richtige und falsche Zeitpunkte. Das passt wunderbar zu uns. Für Zeitabläufe und deren Dynamik fühlen sich gerade auch Museen wie wir zuständig:

  • Wir sehen unsere Sammlungen mit ihren mehr als 30 Millionen Objekten als Teil des Gedächtnis des Lebens und der Erde, ohne Gedächtnis kann man nicht denken, auch nicht vordenken, auch das kommt deutlich im Buch raus.

  • Aber Gedächtnis allein reicht nicht, man braucht auch ein Gehirn. Und das Gehirn unserer Erde sind die Prozesse der Erde und natürlich des Lebens. Und wie dieses Gehirn funktioniert, wie die Neuronen und Synapsen vernetzt sind, reagieren, sich neu ausbilden und funktionieren, das erforschen eben gerade auch solche Häuser wie unseres, und auch das ist ein überaus wesentliches Thema im Buch.

  • Und dann vielleicht das wichtigste Credo von Christian Schwägerl. 
Seine Abneigung gegen Dualismus im klassischen Sinne machte auch mich  nachdenklich, er favorisiert allerdings keinen  Monismus a la Haeckel, sondern einen Humboldt'schen Holismus, in dem die Welten von Kultur und Natur, von Geist und Körper miteinander verschmelzen, ein Ganzes bilden. Und das ist natürlich auch wieder der Auftrag von Häusern wie unserem, Naturwissen nicht nur zu generieren, sondern zu implementieren, Zusammenhänge aufzuzeigen, Wege anzureißen, mit der Gesellschaft zu verbinden.
Dass wir derzeit einen Forschungsbereich Wissenstransfer und Wissenskommunikation aufbauen und professionalisieren, daran sind wohl auch Masterminds wie Christian Schwägerl schuld.

Gerade weil uns der Dialog mit Gesellschaft und Politik so wichtig ist,  freue ich mich überaus, dass Achim Steiner nun schon das zweite Mal in diesem Jahr bei uns im Museum für Naturkunde ist. Zuerst im Januar bei der Eröffnung des UN-Jahrs der Biologischen Vielfalt mit der Bundeskanzlerin, und nun eben jetzt anlässlich der Vorstellung der "Menschenzeit".

Achim Steiner muss natürlich nicht wirklich vorgestellt werden, deshalb hier nur ganz kurz ein paar Blitzlichter:
  • geboren und aufgewachsen in Brasilien
  • Studium der Philosophie, Politik, Ökonomie und Regionalplanung in Oxford und London
  • Tätigkeiten unter anderem in Berlin am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik soe an der Harward Business School
  • Arbeitete dann u.a. für die weltgrößte Naturschutzorganisation IUCN in Washington D.C. und Asien,
  • 1998 Generalsekretär der World Commission on Dams, danach ab 2001 Generaldirektor der IUCN.
  • Seit 2006 Exekutivdirektor der UNEP, als Nachfolger von Klaus Töpfer. Gerade zum zweiten Mal von der UN-Generalversammlung gewählt.

Christian Schwägerl hat ihn übrigens auch schon charakterisiert, etwa in einem Artikel vor dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen. Er nannte ihn dort den "Sisyphus aus Nairobi". Das könnte vielleicht nach Kleinklein, nach vergeblicher Liebesmüh klingen, wo wir doch alle eher an den großen Visionen und deren direkter Umsetzungen arbeiten (– aber auch mich hat da Schwägerl übrigens erwischt, als er mich einmal in einem Artikel als "Humboldts Notarzt" bezeichnete, also einen, der ebenfalls wohl nur dazu da ist, das Schlimmste inkrementell zu reparieren – ).
Doch Schwägerl meint es anders. Es  geht nämlich nur so – Visionen und harte tägliche Arbeit an diesen Visionen zu ihrer Umsetzung müssen zusammenkommen.

Heute wird sicherlich ein Abend der Visionen sein, aber eben auch ein Abend, an dem Christian Schwägerl sich auch ganz und gar nicht drückt vor der Frage, wie wir diese Visionen umsetzen können.

Ich wünsche uns allen einen spannenden Abend.
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von links nach recht: Tissy Bruns, Christian Schwägerl,
Achim Steiner, Reinhold Leinfelder
Weiteres Programm:
  • Laudation durch Achim Steiner, UNEP-Exekutivsekretär
  • Aspekte des Buches durch den Buchautor Christian Schwägerl
  • gemeinsame Podiumsdiskussion: Christian Schwägerl, Achim Steiner, Reinhold Leinfelder, Leitung Tissy Bruns, Tagesspiegel
  • Führung durch die Alkoholsammlung als Teil des "Gedächtnisses des Lebens" im wiederaufgebauten Ostflügel.


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Filmdokumentation der Buchvorstellung im Museum für Naturkunde 






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Christian Schwägerl: Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten. Riemann, München 2010. 320 Seiten, 19,95 Euro.


Hinweise im Museumskontext: 
  •  Das Museum für Naturkunde Berlin kommt im Buch ebenfalls vor. Der Autor sieht es als eine der letzten Bastionen für die Wissenschaft der Taxonomie. Laut E.O. Wilson gibt es etwa 6.000 Taxonomen auf der Welt, laut Schwägerl wären 60.000 oder gar 600.000 notwendig. Er kritisiert, dass die "Manager der Taxonomie" hier noch zu wenig wahrnehmbar widersprochen hätten.

  • Schwägerl ist durchaus ein Fan des Wiederaufbaus des Berliner Stadtschlosses, allerdings nicht als Museum, sondern als transdisziplinäres Anthropozän-Forschungsinstitut. Das wäre doch was!

  • Schwägerl hat sein Buch durch einen weiteren Essay ergänzt, welches er auf seiner Webseite zur Verfügung stellt. Es nennt sich Morgenland. Am 22.4.2025 präsentieren hohe Vertreter aus Saudi Arabien im Berliner Museum für Naturkunde ein Gesamtkonzept für die neue, nachhaltige Menschenzeit "„Unsere Zivilisation wird nicht mehr auf der Erde lasten, sondern leicht sein wie diese Feder. Wir schenken Ihnen und unseren Familien den Beginn des Ersten Bionischen Kalifats.“     

    > zum Artikel Morgenland

    > zu den Buchrezensionen, u.a. von RL, zusammengetragen auf dem Vielfalter-Blog

    > zur "Menschenzeit"-Webseite von Christian Schwägerl


      Dienstag, 2. November 2010

      Ardipithecus und sein Erforscher - Der Schrecken der Schimpansenforscher


      In der letzten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 31.10.2010 findet sich ein lesenswerter Bericht von Ulf von Rauchhaupt zum "Ardipithecus"-Erforscher Tim White.

      Nachfolgend ein Ausschnitt:

      "Allerdings kommt die Voreiligkeit dieses und anderer Kollegen White nun sehr gelegen, um bei Vorträge das wichtigste Ergebnis der Analyse von Ardis Skelett zu unterstreichen: dass dieses Wesen eben gerade keinerlei Ähnlichkeit mit einem Schimpansen hatte.

      Dabei steht Ardipithecus uns zeitlich weniger nah als dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse, der vor sechs oder sieben Millionen Jahren gelebt haben muss. Trotzdem hatte Ardi, anders als Schimpansen oder andere große Menschenaffen, gerade Füße - nur die großen Zehen waren opponierbar. Die Dame war demnach wohl eine gute, aber langsame Kletterin, die ihre Füße in den Bäumen nicht nach Schimpansenart wie ein weiteres Paar Hände einsetzen konnte. Dafür hatte sie ein Becken, dass sie dazu befähigte, weite Strecken auf zwei Beinen zu laufen. Auch das Gebiss hat mit dem von Schimpansen nichts zu tun. Vor allem durch die kleinen Eckzähne - auch bei Ardipithecus-Männern, von denen ebenfalls Zähne gefunden wurden - ähnelt es viel mehr dem späterer Hominiden unserer Abstammungslinie als dem heutiger Menschenaffen.

      "Wir hatten uns immer vorgestellt, je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto schimpansenähnlicher müssen unsere Vorfahren gewesen sein", sagt White. "Dabei hat uns schon Darwin vor diesem Trugschluss gewarnt." Tatsächlich stellt sich jetzt heraus, was nach Darwin zu erwarten gewesen wäre: Heutige Schimpansen haben sich in sechs Millionen Jahren Evolution unabhängig von uns entwickelt und dabei ganz andere Anpassungen ausgebildet. Ihre Fingerknochen, ihre vorderen Zähne, ihr kurzer Rücken, ihre Füße, all das habe mit dem Wesen, von dem der Mensch abstammt, nichts zu tun, sagt White. Es sind Anpassungen an die speziellen Lebensräume der Schimpansen in tropischen Wäldern. Aber wenn das so ist, betont White, dann gibt es keinen Grund für die Annahme, das Verhalten der Schimpansen, ihre Sozialstruktur oder ihr Paarungsverhalten seien etwas anderes als solche Anpassungen. Entsprechend wenig habe all das mit unseren stammesgeschichtlichen Vorfahren zu tun, geschweige denn, mag man ergänzen, mit uns Menschen.
      "Die Schimpansenforscher haben sich darüber ziemlich geärgert", sagt White. "Sie glauben eben mit dem Schimpansen ein Modell für einen frühen Hominiden zu haben." Aber nach White sind sie das weder in ihrer Ökologie noch in ihrer Ernährung, noch in ihrer Fortbewegungsart, noch anatomisch. Warum sollten sie es dann im Verhalten sein?

      Genau diese Hoffnung aber scheinen etliche Forscher gehegt zu haben. "Ein sehr berühmter Primatologe hat mich kurz nach unserer Veröffentlichung in Science auf einer Tagung der Royal Society heftig angegriffen", erinnert sich White. "Und in der Kaffeepause hat er mir dann gesagt, ich hätte die Forschung an Schimpansen um 30 Jahre zurückgeworfen." White ringt noch immer mit der Fassung. "Ja was hätte ich denn tun sollen? Ardis Fossilien wieder verbuddeln? Gar nicht erst graben? Oder vielleicht ein paar Schimpansenzähne dazulegen?"
      Seiner Ansicht nach ist hier etwas schiefgelaufen, nachdem sich durch die Molekulargenetik herausgestellt hatte, dass die Schimpansen unsere nächsten Verwandten sind. Mit einer genetischen Übereinstimmung von 98 Prozent schien diese Verwandtschaft sogar quantifiziert. "Dabei weiß niemand, was diese gemittelte Zahl biologisch eigentlich aussagen soll", sagt White und weist darauf hin, dass etwa der Fuß eines Gorillas dem des Menschen ähnlicher ist als der eines Schimpansen, nähere genetische Verwandtschaft hin oder her. "Trotzdem kamen Schimpansologen und erzählten den Agenturen, die Forschungsgelder verteilen, man müsse Schimpansen erforschen, um etwas über die evolutionäre Herkunft des Menschen zu erfahren. Und wenn wir die Schimpansen ausrotten, würden wir das nie erfahren."
      Dabei will White nicht falsch verstanden werden. "Ich bin doch nicht gegen die Erforschung von Schimpansen und schon gar nicht dagegen, sie vor dem Aussterben zu bewahren." Von der These, hier sei etwas über unsere evolutionäre Vergangenheit zu erfahren, hält er trotzdem kaum mehr als von den Knochenkerben auf dem Nature-Titelbild. Er kann es aber höflicher formulieren: "Die Vergangenheit ist ein anderer Ort", sagt er und beruft sich abermals auf Darwin. "Man kann sie nur aus ihren eigenen Bedingungen heraus verstehen."

      > zum kompletten Artikel (online-version vom 2.11.2010)

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      > früherer Post (vom 3.10.2009) zu Ardipithecus auf diesem Blog