Dienstag, 2. November 2010

Ardipithecus und sein Erforscher - Der Schrecken der Schimpansenforscher


In der letzten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 31.10.2010 findet sich ein lesenswerter Bericht von Ulf von Rauchhaupt zum "Ardipithecus"-Erforscher Tim White.

Nachfolgend ein Ausschnitt:

"Allerdings kommt die Voreiligkeit dieses und anderer Kollegen White nun sehr gelegen, um bei Vorträge das wichtigste Ergebnis der Analyse von Ardis Skelett zu unterstreichen: dass dieses Wesen eben gerade keinerlei Ähnlichkeit mit einem Schimpansen hatte.

Dabei steht Ardipithecus uns zeitlich weniger nah als dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse, der vor sechs oder sieben Millionen Jahren gelebt haben muss. Trotzdem hatte Ardi, anders als Schimpansen oder andere große Menschenaffen, gerade Füße - nur die großen Zehen waren opponierbar. Die Dame war demnach wohl eine gute, aber langsame Kletterin, die ihre Füße in den Bäumen nicht nach Schimpansenart wie ein weiteres Paar Hände einsetzen konnte. Dafür hatte sie ein Becken, dass sie dazu befähigte, weite Strecken auf zwei Beinen zu laufen. Auch das Gebiss hat mit dem von Schimpansen nichts zu tun. Vor allem durch die kleinen Eckzähne - auch bei Ardipithecus-Männern, von denen ebenfalls Zähne gefunden wurden - ähnelt es viel mehr dem späterer Hominiden unserer Abstammungslinie als dem heutiger Menschenaffen.

"Wir hatten uns immer vorgestellt, je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto schimpansenähnlicher müssen unsere Vorfahren gewesen sein", sagt White. "Dabei hat uns schon Darwin vor diesem Trugschluss gewarnt." Tatsächlich stellt sich jetzt heraus, was nach Darwin zu erwarten gewesen wäre: Heutige Schimpansen haben sich in sechs Millionen Jahren Evolution unabhängig von uns entwickelt und dabei ganz andere Anpassungen ausgebildet. Ihre Fingerknochen, ihre vorderen Zähne, ihr kurzer Rücken, ihre Füße, all das habe mit dem Wesen, von dem der Mensch abstammt, nichts zu tun, sagt White. Es sind Anpassungen an die speziellen Lebensräume der Schimpansen in tropischen Wäldern. Aber wenn das so ist, betont White, dann gibt es keinen Grund für die Annahme, das Verhalten der Schimpansen, ihre Sozialstruktur oder ihr Paarungsverhalten seien etwas anderes als solche Anpassungen. Entsprechend wenig habe all das mit unseren stammesgeschichtlichen Vorfahren zu tun, geschweige denn, mag man ergänzen, mit uns Menschen.
"Die Schimpansenforscher haben sich darüber ziemlich geärgert", sagt White. "Sie glauben eben mit dem Schimpansen ein Modell für einen frühen Hominiden zu haben." Aber nach White sind sie das weder in ihrer Ökologie noch in ihrer Ernährung, noch in ihrer Fortbewegungsart, noch anatomisch. Warum sollten sie es dann im Verhalten sein?

Genau diese Hoffnung aber scheinen etliche Forscher gehegt zu haben. "Ein sehr berühmter Primatologe hat mich kurz nach unserer Veröffentlichung in Science auf einer Tagung der Royal Society heftig angegriffen", erinnert sich White. "Und in der Kaffeepause hat er mir dann gesagt, ich hätte die Forschung an Schimpansen um 30 Jahre zurückgeworfen." White ringt noch immer mit der Fassung. "Ja was hätte ich denn tun sollen? Ardis Fossilien wieder verbuddeln? Gar nicht erst graben? Oder vielleicht ein paar Schimpansenzähne dazulegen?"
Seiner Ansicht nach ist hier etwas schiefgelaufen, nachdem sich durch die Molekulargenetik herausgestellt hatte, dass die Schimpansen unsere nächsten Verwandten sind. Mit einer genetischen Übereinstimmung von 98 Prozent schien diese Verwandtschaft sogar quantifiziert. "Dabei weiß niemand, was diese gemittelte Zahl biologisch eigentlich aussagen soll", sagt White und weist darauf hin, dass etwa der Fuß eines Gorillas dem des Menschen ähnlicher ist als der eines Schimpansen, nähere genetische Verwandtschaft hin oder her. "Trotzdem kamen Schimpansologen und erzählten den Agenturen, die Forschungsgelder verteilen, man müsse Schimpansen erforschen, um etwas über die evolutionäre Herkunft des Menschen zu erfahren. Und wenn wir die Schimpansen ausrotten, würden wir das nie erfahren."
Dabei will White nicht falsch verstanden werden. "Ich bin doch nicht gegen die Erforschung von Schimpansen und schon gar nicht dagegen, sie vor dem Aussterben zu bewahren." Von der These, hier sei etwas über unsere evolutionäre Vergangenheit zu erfahren, hält er trotzdem kaum mehr als von den Knochenkerben auf dem Nature-Titelbild. Er kann es aber höflicher formulieren: "Die Vergangenheit ist ein anderer Ort", sagt er und beruft sich abermals auf Darwin. "Man kann sie nur aus ihren eigenen Bedingungen heraus verstehen."

> zum kompletten Artikel (online-version vom 2.11.2010)

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> früherer Post (vom 3.10.2009) zu Ardipithecus auf diesem Blog

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