Samstag, 3. Oktober 2009

Mosaik-Vormensch Ardi - ein echtes Wissenschafts-Highlight

von Reinhold Leinfelder

Nach "Archie 10" und "Tante Ida" nun also "Ardi". Die Mediennews um spektakuläre und wissenschaftlich hochinteressante Fossilien reißen nicht ab.

"Ardi", mit vollem Name Ardipithecus ramidus, wurde gleich mit einem ganzen Set von 11 Forschungsartikeln, an denen 47 Autoren beteiligt sind, sowie weiteren "News"-Artikel in der renommierten Wissenschaftszeitschrift Science Magazin vorgestellt. Bei "Ardi" hat man diesmal ( - ganz im Unterschied zum Affenfund "Tante Ida" und dem 10. Archaeopteryx-Fund -) wohl alles richtig gemacht. Die Auswertung verschiedener, bislang nicht näher bekannt gemachter Funde aus Äthiopien, die insgesamt 15 Jahre bearbeitet wurden, hat wirklich überaus Spannendes ergeben. Ardipithecus ramidus war ganz offensichtlich ein bereits potenziell zweibeinig laufender, sehr früher Vormensch, der über eine Million Jahre älter als "Lucy" (Australopithecus afarensis) ist und viele überaus überraschende Merkmale zeigt.

Besonders gut gefällt mir, dass die Interpretation, Ardi habe in Buschlandschaften gelebt, ausgezeichnet und mit großer Methodenvielfalt begründet ist. Einerseits wird dies durch die Morphologie des Skeletts gestützt, denn diese weist darauf hin, dass Ardi sowohl auf Bäumen (mit vier Extremitäten) wie auf dem ebenen Boden gleichermaßen gut laufen konnte und sich am Boden bereits aufrecht, also auf zwei Beinen laufend bewegte. Die Zweibeinigkeit ist nicht einfach zu belegen, aber sehr ausführlich dargestellt, insbesondere die Beckenstruktur wird hier angeführt. Einige Wissenschaftler, die nicht an der Studie beteiligt waren, scheinen zwar am aufrechten Gang gewisse Zweifel zu haben, aber auch darauf weist Science in einem News-Begleitartikel hin.
Insbesondere aber zeigen die überaus umfassenden Studien zu begleitenden Tieren und Pflanzen sehr gut auf, wie die Lebenswelt von Ardi vor 4,4 Milliarden Jahren, als die verschiedenen Funde von Ardi - vermutlich Reste von wenigstens 35 Individuen - ins Sediment eingebettet wurden, beschaffen war. Ardi lebte in einer Buschlandschaft, nicht etwa in einer Savanne. Um dies zu herauszufinden, wurden über 150.000 Funde von Pflanzen- und Tierfossilien aus den Fundschichten untersucht sowie tausende von Gesteinsproben sedimentologisch und geochemisch analysiert. Damit erscheint die Buschland-Interpretation ausgezeichnet belegt. Auch dass sich Ardi stärker als Schimpansen omnivor ernährt hat, ist durch Untersuchungen der Form, Struktur und Isotopenzusammensetzung der Zähne gut belegt.

Die Hypothese, dass sich der aufrechte Gang des Menschen in der Savanne herausgebildet hat, erscheint damit widerlegt. Allerdings weisen andere Paläoanthropologen wie Friedemann Schrenk darauf hin, dass sich der aufrechte Gang durchaus unabhängig voneinander mehrfach ausgebildet haben könnte und der aufrechte Gang allein nicht ausreichend ist, eine direkte Ahnenreihe zu uns aufzustellen. (siehe hier)

Noch eher im Status einer wissenschaftlichen Hypothese befindet sich die Interpretation zum Sozialverhalten von Ardipithecus. Fehlende Drohreißzähne lassen auf eine weniger aggressive Lebensweise schließen und könnten, zusammen mit den markanteren Wangenknochen, die auch heute bei uns als Schönheitsideal gelten, möglicherweise darauf hindeuten, dass sich bei Paarungen weniger der Aggressivste, sondern eher der "Schönste" durchsetzen konnte. Dies sowie die (aufgrund der vergleichbaren Größe der Skelettreste aller mindestens 35 Individuen gemachten) Annahme, dass Männchen und Weibchen von Ardipithecus ramidus in etwa gleich groß waren, könnten vermuten lassen, dass lange Paarbeziehungen Bestand hatten. Diese Interpretation ist durchaus möglich, aber nicht zwingend. Der hypothetische Charakter dieser Interpretation ist aber in den Originalarbeiten auch entsprechend kenntlich gemacht. Dass "Ardi" den heutigen Schimpansen recht unähnlich war, dass also unsere heutigen nächsten Verwandten doch einen langen "Schimpansierungsweg" hinter sich haben, ergibt sich aus den Ardi-Funden ebenfalls recht konsequent, wobei die korrekte Position von Ardi in der Ahnenreihe des heutigen Menschen allerdings noch relativ offen erscheint.

Dies wird aber auch deutlich gemacht. Die Autoren sagen deutlich, dass Ardi nicht direkt an der Abzweigung von Mensch und heutigen Schimpansen stand, dass die neue Art aber mit ihrer mosaikartigen Merkmalsverteilung das bisher am nächsten an diesem Trennpunkt stehende Fossil darstellt. Es gibt ältere Funde, etwa Sahelanthropus tschadensis, dessen entsprechende Einordnung in einen eventuellen Stammbaum des Menschen noch nicht gelungen ist. Wegen der großen Seltenheit der Funde haben es Paläoanthropologen leider besonders schwer, von Hypothesen zu gut durch Belege untermauerbaren wissenschaftlichen Theorien zu gelangen.

Umso beachtlicher ist, dass bei all dem - sicherlich auch vom Science-Magazin und den Autoren erwünschten und beförderten - Medienimpakt bisher keine Übertreibungen und übertriebene Spekulationen gemacht wurden. Erfreulich ist auch, dass die Medien in aller Regel bisher zwar euphorisch, aber ebenfalls differenziert und sachlich berichteten. Die Fehler, die bei der "Vermarktung" von "Tante Ida" gemacht wurden, hat man bisher nicht begangen. So kann sich Öffentlichkeit und Wissenschaft über diese wirklich überaus bemerkenswerten und wissenschaftlich hochinteressanten Funde völlig berechtigterweise freuen. Glückwunsch an die Autoren, das Science-Magazin und die Paläontologie bzw. Paläoanthropologie, deren Bedeutung für das Verständnis nicht nur unserer Umweltentwicklung sondern auch unserer eigenen Herkunft hiermit wieder eindrucksvoll unterstrichen wurde. Ein wirklich spannender und herausragender wissenschaftlicher Beitrag zum Darwin-Jahr!

(Bilder Science/dpa)

Exemplarische Medienartikel:
> Süddeutsche Zeitung vom 1.10.2009: Unsere neue Nummer eins
> Süddeutsche Zeitung vom 1.10.2009: Attraktion statt Aggression
> Spiegel online vom 1.10.2009: "Ardi" revolutioniert Bild unserer Urahnen
(Nachtrag vom 5.10.09: sehr ausführlicher und lesenswerter Artikel zu Ardi von U.v. Rauchhaupt in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 4.10.09, siehe hier)

> Google News zu Ardipithecus (Zeitraum Oktober 2009)

Übersicht über die Arbeiten zu "Ardi" in SCIENCE-Magazin vom 2.10.09
http://www.sciencemag.org/ardipithecus/


Editorial
Understanding Human Origins, von Bruce Alberts

News Focus
A New Kind of Ancestor: Ardipithecus Unveiled, von Ann Gibbons

Habitat for Humanity, von Ann Gibbons

The View from Afar, von Ann Gibbons

Introduction
Light on the Origin of Man, von Brooks Hanson

Research Articles
Ardipithecus ramidus and the Paleobiology of Early Hominids, von Tim D. White et al.

The Geological, Isotopic, Botanical, Invertebrate, and Lower Vertabrate Surroundings of Ardipithecus ramidus, von Giday WoldeGabriel et al.

Taphonomic, Avian, and Small-Vertebrate Indicators of Ardipithecus ramidus Habitat, von Antoine Louchart et al.

Macrovertebrate Paleontology and the Pliocene Habitat of Ardipithecus ramidus, von Tim D. White et al.

The Ardipithecus ramidus Skull and Its Implications for Hominid Origins, von Gen Suwa et al.

Paleobiological Implications of the Ardipithecus ramidus Dentition, von Gen Suwa et al.

Careful Climbing in the Miocene: The Forelimbs of Ardipithecus ramidus and Humans Are Primitive, von C. Owen Lovejoy et al.

The Pelvis and Femur of Ardipithecus ramidus: The Emergence of Upright Walking, von C. Owen Lovejoy et al.

Combining Prehension and Propulsion: The Foot of Ardipithecus ramidus, von C. Owen Lovejoy et al.

The Great Divides: Ardipithecus ramidus Reveals the Postcrania of Our Last Common Ancestors with African Apes, von C. Owen Lovejoy et al.

Reexamining Human Origins in Light of Ardipithecus ramidus, von C. Owen Lovejoy

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