Montag, 13. Dezember 2010

Nach Nagoya und Cancun - Kultur, Technik und Natur für die neue Menschenzeit

Rezension: Christian Schwägerl: Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten. 320 S., Riemann 2010. € 19,95

von Reinhold Leinfelder

Der aktuelle Ausgang der Klimaverhandlungen in Cancun sowie der Biodiversitätsverhandlungen in Nagoya zeigt umso klarer, dass die globale Staatengemeinschaft bestenfalls einen Rahmen zur nachhaltigen Entwicklung vorgeben kann, die eigentliche Transformation der Gesellschaft hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft jedoch nur von ihr selbst vorangetrieben werden kann. Hierbei müssen Vermeidung und Anpassung, wissenschaftliches Wissen und Lebensfreude, Lebensstil und Verantwortung, regionales und globales verknüpft und gemeinsam behandelt werden. Eine der besten Anregungen hierzu liefert das o.a.Buch von Christian Schwägerl. Eine Kurzrezension dieses Buches durch den Rezensenten ist bereits im Tagesspiegel sowie in den Potsdamer Neueste Nachrichten erschienen. Nachfolgend finden Sie zur weiteren Meinungsbildung eine erweiterte Version, die von einer aktuellen, persönlichen Anregung zur weiteren Diskussion der Visualisierung, Gestaltung und Erprobung der Menschenzeit ergänzt wird.


Höchste Zeit, dass ein Buch über das Zeitalter des Menschen geschrieben wurde? Oder doch überflüssige Zeit, mit der Lektüre einen Teil seiner persönlichen Menschenzeit zu opfern? Dem ökologischen Zeitgeist entspricht das Buch „Menschenzeit“ von Christian Schwägerl jedenfalls nicht, es ist Zeitverschwendung höchstens für diejenigen, die sich bereits eine völlig festzementierte Meinung dazu gebildet haben, wie wir in Zukunft mit unserem Planeten weitermachen können.

Die Richtung, so scheint es, gibt Schwägerl gleich mit dem Untertitel vor:
Zerstören oder gestalten? Das ist natürlich zum einen rhetorisch gemeint, denn selbstverständlich zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, dass wir eben nicht zerstören können, ohne den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.  Aber gestalten als Alternative? Das klingt nach der oft verteufelten „Adaptation“, also der Anpassung an die eh nicht mehr aufzuhaltende Umweltzerstörung mit technischen Mitteln. Gutmenschen lieben statt dessen die „Mitigation“, also die Vermeidung von Umweltrisiken.  Schrieb Schwägerl eine Fibel für technophilen Größenwahn, für diejenigen, die meinen, die Erde sei genügend verstanden, so dass man sie nun komplett ingenieursmäßig steuern könne? Agrogentechnik, Geoengineering und molekularbiologische Menschenoptimierung werden die Welt schon retten?

Wer nur kursorisch durchs Buch blättert, könnte diesen Eindruck vielleicht gewinnen. Schon das erste Kapitel heißt „die künstliche Erde“. In Gentechnik sieht Schwägerl tatsächlich eine wesentliche Möglichkeit, künftig 9 Milliarden Menschen zu ernähren.  Selbst „intelligente Gase“ in die Atmosphäre zu pumpen, kann sich Schwägerl grundsätzlich vorstellen und ja, er denkt  sogar, dass es zum Standard werden würde, Gene des Menschen stillzulegen oder anzuwerfen.  Und am Schluss skizziert er sogar noch einen neuen Menschen, der, wann auch immer, dem Homo sapiens nachfolgen könnte.

Wer das Buch komplett in eine Science-fiction-Ecke stellen möchte, hat das Cover nicht ausführlich genug studiert. Dort findet sich nämlich eine Zeichnung des französischen Künstlers Jean de Gourmot aus dem Jahr 1575, in welcher der Weltbeherrscher Mensch als Narr porträtiert wird. Und tatsächlich, das Buch ist auch voll von der Notwendigkeit zu Vermeidungstrategien: weg von fossilen Energien, Effizienzsteigerung und Lebensstiländerung. Allen voran weg vom Fleisch. Fleischverzehr als Ausnahme, als Fest, vielleicht sogar mit säkularen Riten: Habewohlgelebt-Zeremonien vor dem Schlachten und Verzehr von Tieren, die der Konsument persönlich kannte.

Schwägerl verbindet und verwebt die Gegenpole von Mäßigung und Technologiegläubigkeit nicht zu einem Einheitsgrau, sondern zu einem vielfarbigen Fleckenteppich, der schon in seiner Buntheit und Sprache fasziniert. Dem Buch merkt man an, was der Autor meint, wenn er sagt, dass es den Menschen als solchen nicht gibt, sondern dass die bald sieben Milliarden Individuen dieser Spezies mit ihren Gehirnen eine Vielfalt an Gedanken, Träumen, Wissen und Ideen generieren, die es mit der Vielfalt des Regenwalds durchaus aufnehmen kann. Und hier sind wir beim Grundtenor des Buches. Es ist trotz schonungsloser Bestandsaufnahme der Zerstörungskraft des Menschen ein durch und durch optimistisches Buch. Der Autor sieht Wissenschaft als die wesentliche Kultur des Menschen an, er findet sie schon in den Anfängen der menschlichen Kultur. Schon der Urmensch, der die besten Samen nach Versuch und Irrtum auswählte, war ein experimentierender Wissenschaftler. Heute ist es Craig Venter, dem er vieles zutraut, den er aber auch indirekt kritisiert, da er sich von der Erdölindustrie sponsern lässt.

Wissenschaft zur Rettung der Welt, aber eben reflektiert, eingebunden ins Tagesgeschehen, partizipativ und differenziert in möglichst allen Bereichen. Schwägerl ist durchdrungen vom Humboldtschen Gedanken nach Einheit von Wissenschaft und Kultur, von Körper und Geist. Die Vielfalt des Lebens sieht er wichtig für die Wahrnehmung, Zufriedenheit und Kreativität des Menschen. Humboldt drückte dies so aus: „Die Einsicht in den Weltorganismus erzeugt geistigen Genuss und innere Freiheit“. Bemerkenswert, wie Schwägerl daher den Dualismus der Kirchen ob dessen Natur- und Körperfeindlichkeit geißelt, aber auch im materialistischen Monismus keinen Gefallen findet.
Nein, Schwägerl ist Holist, er sieht, wie hinderlich für ein Wissensverständnis die Gegensätze von Körper und Seele, diesseits und jenseits, Natur und Kultur, oder Schöpfer und Schöpfung sind und plädiert für deren Verbindung. Dabei ist er weit davon entfernt, Religionen abschaffen zu wollen. Er hält Religionen eigentlich für ideal gegen Kurzfristdenken, denn sie stabilisieren Lebensziele über Jahrzehnte und Werte sogar über Jahrhunderte. Aber materielles, molekulares und animalisches als moralisch schlecht zu bewerten, die Erde nur als Vorraum, Sinnestäuschung oder Ablenkung zu sehen, trägt nicht dazu bei, Verantwortung für den „Weltorganismus“ zu übernehmen. Religionen könnten sogar viel dazu beitragen, aber das Beten sei in Wünschen übergegangen, das Finanzsystem ein moderner Ablasshandel und apokalyptische Vorstellungen sowie kalvinistische Kurzzeitlebensweise kontraproduktiv.  Er wünscht sich einen grünen Papst, der ohne Papamobil durch die Lande ziehe, am besten um die ganze Welt wandert und mit den Menschen darüber redet, was es bedeutet, dass wir uns nun die Erde untertan gemacht haben.

Aber trotz allen Wissenschaftspositivismus’ zielt Schwägerl mit seiner Kritik auch auf die heutige Wissenschaft. Eine Aufspaltung in Natur- und Geisteswissenschaften sei zu bequem. Und sich gar anzumaßen, die Natur nur naturwissenschaftlich verstehen zu können, helfe auch nicht: die Natur ist keine Maschine, die heutige Neurobiologie sei zu materialistisch.  Auch hier sei ein Verschmelzen angebracht. Eben auch ganzheitlich. Und aus einem ganzheitlichen Ansatz könne sogar eine „Neurobiologie der Naturverbundenheit“ generiert werden – der Mensch als Teil der Natur, ja, aber eben auch Gärtner der Natur, allerdings eben humboldtianisch: nachhaltigen Wohlstand gibt es vor allem aus dem Hineindenken in die Natur, Herausnehmen allein kann nicht funktionieren.

Hier setzt der Autor mit dem ein, was er Biofuturismus nennt. Das beginnt mit einem Blick in die Vergangenheit. Der Autor wirft neue Aspekte in die Diskussion um ökologische Fußabdrücke, um Gemeinsinn, Gerechtigkeit, die unerwartet sind. Baron d’Holbach meinte schon 1770, dass sich die Rechte des Menschen über seine Mitgeschöpfe nur auf die Glückseligkeit gründen können, die er diesen selbst gewährt. Aus dieser tief antimaterialistischen Haltung leitet Schwägerl dennoch eine freie Marktwirtschaft ab. Nichts liegt ihm ferner als eine irgendwie geartete „Ökodiktatur“.  Freie Marktwirtschaft ja, aber nur, wenn alle Verursacher- und Folgekosten dabei eingespeist sind. Es geht darum, so zu leben und Produkte so zu bepreisen, dass der Mensch nicht nur keine Spur der Zerstörung hinterlässt, sondern dass vielmehr sein Geld dazu dient, technologisch mit den Ökosystemen der Natur zu wachsen statt gegen sie.  Natürlich müssen sich dazu Werte weiter ändern. Freiheit kann nur durch positiven Verzicht verstehen, einem neuen Individualismus traut Schwägerl hier viel zu.

Vielleicht hätte das Buch hier aufhören können. Aber Schwägerl wird nun vollends, und ganz positiv zum Futuristen. Er skizziert einen neuen, auf Wissenschaft aufbauenden Jugendstil. Er schwärmt von abfallfreien, je nach Bedarf neu zusammensetzbaren Bioprodukten, von einer neuen Nachhaltigkeitstechnik, von einem neuen Kunstgefühl, in dem sich Wissenschaft und Kultur treffen. Die Wissenschaft muss die Gebrauchstechnik und die Weltdaten liefern, aber im Worst Case auch die Notmaßnahmen bereitstellen. Nur deshalb ist er dafür, dass auch Geoengineering, also insbesondere das Einblasen von Schmutzpartikeln in die Atmosphäre zur Temperaturreduktion erforscht werden müsse. Zu alle dem braucht es viel Geld. Zum ersten Mal in einem derartigen Zukunftsbuch lese ich hierzu neues über die Alten. Die Wissenschaft hat erkannt, dass das Gehirn bis ins hohe Alter plastisch und dynamisch bleiben kann. Die Gesellschaft braucht diese Altersweisheit, jedoch keine Altersegoisten, die sich auf ihrem Wohlstand ausruhen.
Wer, wenn nicht die Alten, so sein Credo, könnte denn Verantwortung für die junge Generation übernehmen, etwas zurückgeben von dem materiellen Reichtum, der eben auch durch, wenn auch oft unbewusste, Ausbeutung der Natur erreicht wurde.

Was eine Gesellschaft leisten könnte, die sich auf Langfristigkeit trainiert und ihre Ressourcen in den Dienst eines schonenden Umgangs mit der Erde stellt, beschreibt Schwägerl in Bildern, die heute noch fremd anmuten: China zwingt mit scharfen Grenzwertvorgaben Europa in einen Wettkampf zu Umwelttechnologien, ergrünte Städte produzieren ihre eigenen Lebensmittel und generieren hohe Artenvielfalt. Die islamische Welt hat sich auf ihre wissenschaftlichen Großtaten zurückbesonnen und gestaltet ein „bionisches Kalifat“. Kleidung besteht aus verflüssigbaren biotechnischen Materialien, als weite Sonderwirtschaftsflächen werden Evolutionsgebiete ausgewiesen. Gene in Datenbanken sind öffentlich zugänglich, die Nutzung wird in demokratischen Entscheidungsprozessen geregelt. iBusse und iTrains, grüne True Counter Märkte, Wiederaufbaumärkte, wo echte Preise bezahlt werden, florieren. Autos und größere Elektrogeräte werden nur noch bei Bedarf gemietet, die Kreislaufwirtschaft ist ein Renner. Statt Roter Listen der bedrohten Arten gibt es grüne Listen der Wiederkehr, Aquakulturen flottieren mit Windkraft über die Meere, die Grünhelme der vereinten Nationen regeln eventuelle Krisenfälle, die Weltbevölkerung befindet sich auf einem Schrumpfungspfad. Erwerbsarbeit, Ämter und Ehrenämter sind ein Leben lang durchmischt, die Blütezeit der Wissenschaft hat begonnen.  Natürlich weiß Schwägerl auch, dass er hier bei Visionen, vielleicht auch nur Träumen angelangt ist, entsprechend bezeichnet er eines der Unterkapitel auch als Blütenträume. 

Wem das aber nun schon alles zuviel wurde, sollte vielleicht auf das letzte Kapitel verzichten. Hier wird der Visionär und Biofuturist nun doch ein bisschen zum Utopisten. Er skizziert, wie gegebenenfalls eine neue Menschenart nach dem letzten Individuum des Homo sapiens leben und handeln könnte. Das sind natürlich Spekulationen, aber um die geht es Schwägerl nicht wirklich. Er will nur skizzieren, dass das Ende keine Apokalypse sein muss – zu viel wurde bislang mit dem Beschwören von Apokalypsen verhindert. Er nennt das Schlusskapitel entsprechend eben nicht „Weltuntergang“ sondern „Weltaufgang.“ Ob ihm hier jeder folgen mag, ob wir nach der Lektüre des Buchs tatsächlich unser Langzeitdenken schon so geübt haben, dass wir uns auch einen Menschenzeit 2.0 mit einer anderen Menschenart vorstellen können, muss jeder Leser selbst herausfinden.

Als Fazit stelle ich fest, dass das Buch eine kleine Sensation ist. Wissenschaftlich akribisch recherchiert und mit geeigneten Literaturzitaten versehen ist das Buch ein positives, differenziertes Werk, welches nicht wie viele andere nur lamentiert und fordert. Es kann, so meine ich, vielmehr Lust machen auf eine von uns allen gestaltete Transformation in die Zukunft, auf eine Menschenzeit, in der das Prinzip Verantwortung für die Zukunft ins Grundgesetz aufgenommen wurde und von jedermann wie selbstverständlich akzeptiert wird. Hervorzuheben ist vor allem die Schwägerl’sche Ganzheitlichkeit, nicht nur im naturwissenschaftlichen Ansatz, der im Unterschied zu ähnlichen Zukunftsbüchern nicht nur die Klimafrage, sondern auch die Biodiversität, die Landwirtschaft mit ins Visier nimmt, sondern eben Natur- und Kulturwissenschaften zu einer tatsächlichen Transformationswissenschaft verschmelzen möchte. Vielleicht wird der Leser nicht in allen Bereichen folgen wollen oder können, aber das Buch ist eine Fundgrube für viele neue Ideen und Ansätze in Sachen Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Es ist zudem stilistisch hervorragend geschrieben und bereitet vollen Lesegenuss. Vor allem aber ist es ein subtiles, reflektiertes Mutmacherbuch, und das können Gesellschaft und Politik derzeit wirklich dringend gebrauchen.

Und zum Schluss noch eine persönliche Vision: Müsste man sich die neue Menschenzeit nicht noch besser veranschaulichen, als dies in einem Buch möglich ist? Wie wäre es mit einer museumssparten-übergreifenden, wissenschaftsbasierten, vielleicht sogar partizipativen In- und Outdoor-Ausstellung, etwa unter dem Motto: „Das Anthropozän - Kultur, Technik und Natur für die neue Menschenzeit“?  Hier könnten, vielleicht auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof sowie unter Einbeziehung und entsprechender Gestaltung einer Internationalen Bauausstellung sowie einer Internationalen Garten- und Ackerbauausstellung Zukunftsvisionen für neue, nachhaltige und ressourcenschonende Lebensweisen und Kulturtechniken visionär dargestellt werden und Berlin gleichermaßen als potentieller Motor und potentielles Beispiel für eine entsprechende Entwicklung diskutiert werden. 




Prof. Dr. Reinhold Leinfelder ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)

----------------
weitere Informationen zum Buch und zur Menschenzeit:

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wählen Sie unter Profil auswählen zumindest Name/URL. Sie können hier einen beliebigen Namen angeben und den URL-Eintrag weglassen, also anonyme Einträge machen. Die Einträge werden jedoch nicht sofort freigegeben. Wir prüfen zuvor auf Spam und Netiquette. Realnamen sind uns natürlich lieber :-) Vielen Dank.