Wenn seit Sommer auch in etwas eingeschränkter Weise, so erschienen doch das ganze Jahr über erstaunlich viele Artikel rund ums Darwin-Jahr. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen konnte und wollte ADLD diese Artikel nicht alle im Einzelnen vorstellen oder kommentieren. Statt dessen verweisen wir auf unsere thematischen Google-News-Liste in der rechten Spalte von ADLD (relativ weit unten) sowie auf unseren Artikel-Clipboard-Dienst am unteren Ende dieser Seite. Vor dem 150. Jahrestag des Ersterscheinens von Darwins "On the Origin of Species" (erschienen 24. November 2009) nehmen nun nicht nur die landesweiten Darwin-Aktivitäten, sondern auch die Medienberichte wieder zu, ob es nun ein Jahresendspurt wird oder das Thema Evolution auch im nächsten Jahr im öffentlichen Interesse hoch angesiedelt bleibt, wird sich herausstellen. Jedenfalls Grund genug, auf drei in den letzten Tagen erschienene, sehr interessante Artikel nachfolgend direkt hinzuweisen:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2009:
Darwin und die Sklaverei. Der größte Fluch auf Erden
Dieser umfassende Artikel von Henning Richter diskutiert sehr differenziert, dass der "Daseinskampf" im Denken Darwins nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, da er mit "survival of the fittest" bzw. dem späteren "struggle for existence" weniger den Kampf als vielmehr die Anpassung an veränderte Existenzbedingungen meinte.
Zitate aus dem Artikel:
"Der Entwicklungsprozess ließ für Leidenschaften im Guten wie im Bösen keinen Raum, und folgerichtig war die Theorie Darwins, im Gegensatz zur darwinistischen Weltanschauung, auch ein einziges Plädoyer, die Natur nicht länger unter moralischen Kategorien zu betrachten. Der Entwicklungsprozess ignorierte alle moralischen Begriffe, und angesichts der großen Rechnung, die er aufmachte, musste es aussichtslos erscheinen, ein Bild des Geschehens festzuhalten, in das moralische Kategorien eingewoben waren. Er rechnete in Zeitdimensionen, in denen die Epochen der Moral nur eine Episode ausmachten. ....
Die Entmoralisierung, die durch Darwins Theorie bewirkt wurde, konnte eine Betrachtungsweise nicht gänzlich entmutigen, die, zurückblickend auf das ungeheure Ausmaß der Gewalt in der Geschichte, diese als Bedingung der Höherentwicklung rechtfertigte oder zumindest in Rechnung stellte. Es war verlockend und doch ein Missverständnis, auch die geschichtlichen Siege und Niederlagen mit dem kalten Blick der Evolutionslehre zu betrachten.....
Das Viktorianische Zeitalter bediente sich des Euphemismus der Anpassung, wenn es die Grausamkeit der sozialen Forderungen meinte. In der Sprache von Darwins „Origin of Species“ wurde freilich alles getan, um solche Grausamkeitsassoziationen zu unterbinden. Offenbar wolle Darwin jede Analogisierung mit der menschlichen Erfahrungswelt fernhalten, wie er auch sonst in seinem Hauptwerk jede Anwendung seiner Theorie auf den Menschen aus seinen Darlegungen ausklammerte. ...
Es gehörte zu Darwins publizistischer Strategie, Auseinandersetzungen über theologische und soziale Fragen im Zusammenhang mit seiner Theorie zu vermeiden. In der Zeit, als er den Auslesemechanismus entdeckte, war seine Sprache energischer als später. Man weiß aus seinen Notizbüchern, dass eine Lektüre des berühmten Bevölkerungsessays von Robert Malthus zu seiner Erkenntnis des Auslesemechanismus entscheidend beigetragen hatte.
...... So steckte in dem entwicklungsgeschichtlich begründeten Begriff der Zivilisation eine Verrohung, die nur durch eine von der Evolution nicht vorgesehene humane Energie zum Ausgleich gebracht werden konnte. Um so bedrückender musste es erscheinen, wenn diese Aufgabe versäumt wurde durch die Verblendung, der die tüchtigsten Vertreter der Zivilisation erlagen, weil sie die Humanität durch den Entwicklungsprozess für garantiert hielten....
Auf diese vertrackten Verhältnisse von Moral und Evolution reagierte Darwin mit einem moralischen Quietismus. Diese Haltung hat er nur in einer einzigen Frage aufgegeben - in der Sklavenfrage. Es war die einzige moralische und politische Frage, zu der er öffentlich Stellung bezog. .... Dass die Portugiesen völlig ungestört Afrikaner nach Brasilien brachten und dass hier keine Schritte zur Sklavenbefreiung unternommen wurden, nannte Darwin einen „Skandal der christlichen Nationen“. ...
Darwins Erschrecken zeigt wie kaum eine andere seiner Äußerungen das Bedürfnis, in moralische Distanz zu seiner Zeit zu treten. ...
In seinem Briefwechsel mit Asa Gray, dem amerikanischen Anhänger seiner Lehre, ließ er sich, erregt über den Krieg um die Sklaverei, sogar zur Anrufung Gottes herbei: „Ich habe nicht eine einzige Seele gehört oder gesehen, die nicht mit dem Norden ist. Einige wenige, und ich bin einer davon, flehen sogar zu Gott, dass der Norden, sogar um den Preis des Verlusts von Millionen Menschenleben, einen Kreuzzug gegen die Sklaverei ausrufen möge.“ Der Gewinn für die Sache der Humanität würde sich auf lange Sicht vielfach auszahlen, auch wenn eine Million Tote in Kauf zu nehmen wären.
Mit dem Ausruf: „Großer Gott, wie gerne sähe ich diesen größten Fluch auf Erden, die Sklaverei beseitigt“, schloss Darwin sein Bekenntnis. ...
Keine Lehre des neunzehnten Jahrhunderts hat die Grausamkeitsphantasie der Zeit so sehr angeregt wie der Darwinismus mit seinen Schlagworten vom Daseinskampf und vom Überleben der Tüchtigsten. ...Dieser Darwinismus der Grausamkeit hat lange Zeit einen Schatten auf die Theorie Darwins geworfen und legt die Behauptung nahe, dass Darwin kein Darwinist gewesen ist."
(die Zitate können den Inhalt des Gesamtartikels nicht repräsentativ wiedergeben, das Lesen des gesamten, überaus informativen Artikels wird sehr empfohlen >> zum Artikel)
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Die Süddeutsche Zeitung hat ihre Darwin-Serie, die in unregelmäßiger Folge erscheint, während des ganzen Darwin-Jahrs bisher durchgehalten. Sebastian Herrmann schrieb nun den 27. Beitrag unter dem Titel:
Die Steinzeit im Kopf - Dynamische Umgebung, veränderlicher Geist.
(Süddeutsche Zeitung vom 12.11.2009).
Hieraus einige Auszüge:
"Wurde das heutige Verhalten dem Gehirn schon während der Steinzeit eingemeißelt? Muss der Mensch deshalb fremdgehen oder Blondinen lieben? Diese Thesen sind beliebt - aber äußerst fragwürdig.
Scarlett Johansson verdankt ihre Karriere dem Wollhaarmammut. Weil die Jagd nach den großen elefantenähnlichen Tieren einst so gefährlich war, konnte die blonde Schauspielerin heute zum Traum vieler Männer werden. Scarlett Johanssons Beliebtheit und das Wollhaarmammut - diese logische Kette ist selbstverständlich brüchig, der Zusammenhang konstruiert. Doch es passt zu einer Nachricht, die vor einiger Zeit aus der schottischen Universität St. Andrews drang.
Demnach seien am Ende der vergangenen Eiszeit in Nordeuropa Frauen in der Überzahl gewesen. Nahrungsknappheit habe die Männer gezwungen, gefährliches Großwild zu jagen - vielleicht sogar Wollhaarmammuts. So eine Steinzeitpirsch war aber riskant, viele Jäger ließen ihr Leben. Für die dezimierte Männerschar entpuppte sich das als Vorteil: Die Überlebenden waren wenige und begehrt. Sie konnten sich die Partnerinnen nehmen, die ihnen gefielen, und sie wählten das Besondere - Frauen mit blonden Haaren.
So verbreiteten Nordeuropas Männer vor Tausenden Jahren die damals noch junge Erbgut-Mutation für helles Haar. Es ist eine nette und schlichte Geschichte, die weit über Studierstuben hinaus Beachtung fand. Wegen der Mammutjäger finden Männer Blondinen attraktiv, wurde in der Öffentlichkeit munter interpretiert.
Solche Behauptungen sind nicht weit entfernt von den Kernaussagen der Evolutionspsychologie. Deren Vertreter argumentieren, der menschliche Geist sei noch immer an ein Leben als Jäger und Sammler angepasst. Verhalten, das sich während der Entwicklung des modernen Menschen vor 100.000 Jahren in der Savanne Afrikas oder Jahrtausende später bei der Großwildhatz als Überlebensvorteil erwies, sei bis heute in der Psyche verankert......
Ist es das, was Charles Darwin meinte, als er schrieb, seine Theorie stelle die Psychologie auf eine ganz neue Grundlage? Oder handelt es sich bei den Erklärungen der Evolutionspsychologie um Phantastereien und naive Überinterpretationen? ....
Männer stehen demnach auf Frauen, die jünger als sie sind, weil sie ihnen viele Kinder gebären können. Frauen verlieben sich in ältere Männer mit hohem Status, weil sie ihre Kinder besser versorgen können - das schreibt zum Beispiel David Buss, Evolutionspsychologe der Universität Texas. ...
Randy Thornhill und Craig Palmer behaupten in ihrem Buch "A Natural History of Rape" sogar, Männer trügen eine Art Vergewaltigungsgen in sich. Wer einst Frauen mit Gewalt zum Sex zwang, der habe mehr Nachkommen gezeugt als ein prähistorischer Romantiker. Vergewaltigung sei also eine erfolgreiche evolutionäre Strategie und gehöre zum vererbten Verhaltensrepertoire, lautet die provozierende Argumentationslinie der amerikanischen Wissenschaftler. ...
Tatsächlich wandelt sich auch das menschliche Erbgut sehr viel schneller, als die Begründer der Evolutionsbiologie angenommen haben. Epigenetiker zeigen, wie ständig neue Erbgutabschnitte aktiviert, andere lahmgelegt werden. An Mäusen lassen sich die Spuren traumatischer Erfahrung aus deren Kindheit in der Aktivität einzelner Gene nachweisen....
Aber im Schädel des Menschen soll ein Grottengeist aus der Steinzeit hausen? Das Dogma der Evolutionspsychologie, der Mensch habe das Fundament seines Geistes seit 10.000 Jahren nicht verändert, ist mit solchen Forschungsergebnissen unvereinbar.... So bleibt die Theorie wohl nur eine dieser netten Geschichten - von Männern, Frauen und Sex."
(Auch hier konnten nur einige Ausschnitte wiedergegeben werden, >> hier geht es zum kompletten Artikel)
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Süddeutsche Zeitung vom 13.11.2009
Der Außenseiter Vernunft. In der Amtskirche bleibt die kritische Theologie unerwünscht.
Von Martin Urban
Ausschnitt: "Religiöse Gefühle soll man nach alter Sitte nicht verletzen. Die Vernunft dagegen darf man ungestraft beleidigen. Die Kirchen fühlen sich hierzulande zuständig für die religiösen Gefühle. Sie prägen die unterschiedlichen Vorstellungen davon, was denn beleidigend sein kann und was nicht. Die Vernunft darf traditionell außen vor bleiben. Seit mehr als hundert Jahren gibt es die historisch-kritische Theologie. Aber deren Erkenntnisse werden nicht beachtet. Das würde die gerne zitierten "geistlich Armen" beleidigen.
... Mittlerweile klaffen Welten zwischen dem frommen Geschwätz und dem Wissen der historisch-kritisch arbeitenden Theologen beider Konfessionen, ergänzt um die Forschungsergebnisse anderer Wissenschaften. Die Brüchigkeit der Fundamente zeigt sich in der wissenschaftlich fundierten Deutung insbesondere der Bibel, des wirkmächtigsten Buchs der Weltgeschichte. Wer sie einfach nur liest, muss sie missverstehen, und das nicht erst seit heute. Die Bibel sorgt seit 2000 Jahren für Missverständnisse, das ist so gewollt.
.... Der Rückmarsch in den Fundamentalismus ist auch ein Politikum
.... Nur einzelne forschende Theologen wehren sich öffentlich gegen den schlichten Kirchenglauben. Viele habben Angst, sie müssten als Erste dran glauben, wenn theologische Lehrstühle mangels Interesse von Studenten geschlossen werden sollten. Und so spielen die Erkenntnisse der kritischen Theologie im Diskurs der Wissenschaften heute außerhalb der Feuilletons (fast) keine Rolle."
Der Artikel ist online nicht unter sueddeutsche.de verfügbar, ein Blogger hat ihn jedoch > hier eingestellt.
Martin Urban war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2001 der Leiter der Wissenschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung. Er ist u.a. Autor des Buchs "Wer leichter glaubt, wird schwerer klug. Wie man das Zeifenln lernen und den Glauben bewahren kann" (Informationen zu Martin Urban auf Wikipedia)
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Abbildungsquellen:
oben: http://www.peacebuttons.info/E-News/images/peacehistorymarch.htm
Mitte: Rekonstruktion eines Neandertalers mit moderner Kleidung, aus:
http://www.darkdaily.com/neanderthalgenome-sequenced-using-dna-from-38000-year-old-bones
unten: gefunden in http://forum.gamed.de/showthread.php?t=168491&page=62
Sonntag, 15. November 2009
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