Montag, 7. September 2009

Darwin - verbannt, missbraucht, halbiert, vergöttert?

Hinweis: Der 7. Berlin-Brandenburger MNU-Kongress findet am 10. und 11. September 2009 an der Freien Universität Berlin, statt. Hauptveranstalter ist der Berlin-Brandenburger Landesverein des Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und natur wissenschaftlichen Unterrichts e.V. . Schirmherr ist der Wissenschaftssenator des Landes Berlin, Prof. Dr. Jürgen Zöllner. Nähere Infos unter http://www.mnu-bb.de/kongress09/

Auch dieser Lehrerfortbildungskongress geht nicht spurlos am Darwin-Jahr vorbei. Der Eröffnungs-Hauptvortrag lautet:

Charles Darwin heute: verbannt, missbraucht, halbiert, vergöttert?
Relevanz, Akzeptanz und Vermittlung der Evolutionswissenschaften in Schule und Gesellschaft


Kurzfassung: Die auf Charles Darwin zurückgehende Evolutionsionstheorie wird seit ihrer Entstehung teilweise angefeindet und zweckenfremdet. Daran hat auch die enorme Weiterentwicklung der Theorie, mit neuen Methoden und vielfältiger Absicherung nichts geändert. Kreationisten und sogenannte Intelligent Design-Anhänger bezweifeln sie nach wie vor und kreieren eigene pseudowissenschaftliche Thesen. Manche gehen sogar soweit, dass sie in der Evolutionstheorie die Wurzel fast aller Übel sehen oder sie zumindest komplett verbannt wissen wollen.

Das alles hat verschiedene Ursachen, aber es liegt sicherlich vor allem auch daran, dass das Menschenbild seit Darwin ein anderes ist und manche sich bis heute damit schwer tun. Allerdings wurde die Evolutionstheorie auch schon früh in anderer Weise missbraucht, für die Pseudobegründung von Rassenlehre genauso wie die stalinistische Umsetzung der Lehre vom neuen, materialistischen Menschen, und auch der Turbokapitalismus berief sich gerne auf Darwin. Auch heute gibt es wieder teilweise Überinterpretationen: einseitige, rein biologische Interpretation unseres Menschenbilds und Verhaltens, aber auch wieder Vereinnahmung für ökonomische Konzepte, als ob Darwin die Weltformel gefunden hätte. Das hat er nicht, und Vergötterung ist daher nicht angebracht, aber Darwin hat nichts weniger als die Biologie revolutioniert. Zwischenzeitlich haben sich übrigens nicht nur die Evolutionswissenschaften 150 Jahre weiterentwickelt, sondern auch die Theologie, mit Ausnahme kreationistisch religiöser Gruppen. Damit steht, sofern keine Grenzüberschreitungen gemacht werden, Religion heute nicht mehr gegen Evolution, und aus den Evolutionswissenschaften kann man weder auf die Existenz noch auf die Nichtexistenz eines Gottes schließen, denn beides liegt auf verschiedenen Ebenen. Naturwissenschaftlern, die dies so sehen, wird jedoch manchmal, wenn auch zu Unrecht, eine „Halbierung“ Darwins vorgeworfen.

Auch heute ist Evolution in unserem Leben allmächtig, denn ob es nun die evolutionäre Abhärtung unseres Immunsystems ist oder der Heißhunger, der uns ab und an auf Süßes oder Fettes befällt, all dies sind Auswirkungen der biologischen Evolution, denn unser Verhalten ist, im einzelnen noch unerforscht, teils ein Zusammenspiel, teils ein ständiges Hin und Her zwischen biologischer und kultureller Evolution. Wie spielen biologische und kulturelle Evolution zusammen, inwieweit ist die kulturelle Evolution verlängerter Arm der biologischen Evolution, inwieweit ist sie Kontrollmechanismus unseres biologischen Erbes? Nur durch diesen interdisziplinären Ansatz aus Natur- und Kulturwissenschaften können wir ein realistisches Menschenbild entwickeln.

Aber noch in einem ganz anderen Zusammenhang ist Evolution wichtig. Die heutige Artenvielfalt, von der wir ja auch ökonomisch abhängen, ist natürlich ein Produkt der Evolution. Wir exerzieren derzeit einen der größten Selektionsversuche, die je stattfanden. Nur die Evolutionsforschung wird uns, in Verbindung mit der damit verbundenen taxonomischen und ökologischen Forschung, der Klimaforschung, den Geowissenschaften, aber auch den Geisteswissenschaften ermöglichen, zu bewerten, wie sich unsere biologische Umwelt ändern wird und wie wir die Natur in Zukunft nachhaltig nutzen können.

Redner: Reinhold Leinfelder.
Der Geologe und Paläontologe Reinhold Leinfelder ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin sowie Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Wählen Sie unter Profil auswählen zumindest Name/URL. Sie können hier einen beliebigen Namen angeben und den URL-Eintrag weglassen, also anonyme Einträge machen. Die Einträge werden jedoch nicht sofort freigegeben. Wir prüfen zuvor auf Spam und Netiquette. Realnamen sind uns natürlich lieber :-) Vielen Dank.