Samstag, 3. Oktober 2009

Geisteswissenschaften im Dialog: von der Evolutions- zur Biodiversitätsforschung

von Reinhold Leinfelder

Evolutions- und Biodiversitätsforschung sind auf vielfache Weise eng miteinander verknüpft. Zum einen war und ist die taxonomisch erfasste Vielfalt der belebten Natur die empirische Datenbasis zur Entschlüsselung der Evolutionsmechanismen, zum anderen ist die heutige Biodiversität eben auch das dynamische Produkt der Evolution. Die Vielfalt der Gene, Arten und Ökosysteme ist nur verständlich als Wechselspiel von Variabilität, Migration, Selektion und Anpassung. Je stärker die selektiven Kräfte wirken, desto rascher ändert sich in der Regel die biologische Vielfalt. Durch nicht nachhaltige Land- und Meeresnutzung, Überdüngung, Verschmutzung sowie durch die anthropogene Beschleunigung des Klimawandels durchläuft die Biodiversität derzeit einen globalen Selektionsversuch. Dies muss nicht nur in direkter Dezimierung der Biodiversität resultieren, sondern kann Umbauten der Biodiversität bewirken oder gar neue adaptive Prozesse auslösen. Tatsächlich passen sich etliche Organismen aktuell evolutionär an. Subtropische Singvögel und Insekten werden zuerst in unseren winterwarmen Städten heimisch, eingeschleppte Algen sind bei überdüngten Gewässern oft besser angepasst als einheimische, beim Kabeljau werden als Reaktion auf die immense Überfischung früher geschlechtsreife, also kleinere Tiere selektiert, und manche Korallen „erproben“ Symbiosen mit temperaturrobusteren Algenvarietäten. Allerdings läuft die anthropogen bedingte Veränderung unserer Umwelt zu rasch ab, als dass die evolutionären Anpassungen in aller Regel eine echte Chance haben könnten. Bei zu raschen Umweltveränderungen treten meist keine linearen Veränderungsprozesse auf, stattdessen können „Kippmechanismen“, also exponentiell ablaufende Veränderungen biologische Systeme enorm schnell kollabieren lassen, wie es derzeit insbesondere die Korallenriffe und Fischpopulationen erfahren.

Ein anderer Bereich der Evolutionsforschung ist ebenfalls wesentlich, um unsere biologische Vielfalt doch noch nachhaltig in Zukunft nutzen zu können. In der biologischen Natur des Menschen scheint begründet zu sein, zwar über sein eigenes Leben hinaus denken zu können, jedoch nur wenig Handlungskonsequenzen daraus zu ziehen. Die bessere Kenntnis der dynamischen, je nach Kontext unterschiedlichen Interaktion zwischen biologischem und kulturellem Erbe ist eine notwendige Voraussetzung, um ethische Umwelt-Prinzipien, etwa den ökologischen Imperativ von Hans Jonas − „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ − umsetzen zu können. Schon Aristoteles erkannte das Dilemma der ungezügelten Nutzung der Allmendegüter, also derjenigen Güter, für die keine exklusiven Verfügungsrechte bestehen und bemerkte, dass: „dem Gut, das der größten Zahl gemeinsam ist, die geringste Fürsorge zuteil wird.“ Dies gilt heute insbesondere für Fischfang, Jagd auf Wildtiere, Raubbau von Wäldern, sowie Verwendung von Luft, Boden, Wasser als ungeregelte Schadstoffdeponien. Ebenso werden technische Großlösungen, wie etwa die Abkühlung der Atmosphäre durch geplanten großmaßstäblichen Schadstoffeintrag schon allein wegen fehlender gesellschaftlicher Akzeptanz keine Nachhaltigkeit hervorrufen können.

Eine über Hunderte von Generationen reichende, nachhaltige Nutzung unserer Natur wird deshalb keinesfalls allein über naturwissenschaftlich rational begründete Verbote und Regularien möglich sein, sondern muss unser biologisches und kulturelles evolutionäres Verhaltenserbe mit berücksichtigen und darauf aufbauend partizipative, auch emotional geeignete Lösungsansätze suchen. Angewandte Biodiversitätsforschung reicht also weit über Taxonomie, Evolutionsbiologie, Molekularbiologie und Ökosystemforschung hinaus – sie umfasst auch wesentliche Bereiche der Geo-, Umwelt- und Klimawissenschaften, aber gleichermaßen auch Soziologie, Kultur-, Kognitions- , Rechts-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften. Mit anderen Worten: Nachhaltige Nutzung der biologischen Vielfalt ist nur über eine große Vielfalt an Forschungsansätzen erreichbar.

(Bild: Ausschnitt aus der Wand der Artenvielfalt des Museums für Naturkunde Berlin, © Museum für Naturkunde Berlin)


Statement des Autors für ein Podiumsgespräch von "Geisteswissenschaften im Dialog" zum Thema "Nach Darwin - Evolutions- und Biodiversitätsforschung heute". Das Gespräch fand statt am 2.Oktober 2009 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Co-Veranstalter und Partner waren die Union der Deutschen Akademien der Wissenschaften, die Leibniz-Gemeinschaft, das Museum für Naturkunde Berlin, der Deutschlandfunk sowie das Museum für Naturkunde Berlin.
Programm und weitere Statements finden Sie > hier.

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