Samstag, 23. Mai 2009

Videoblog von Josef Reichholf zur Evolution

(vom 23.5.09, mit späteren Nachträgen, letzter Nachtrag vom 8.12.09)

Prof. Dr. Josef Reichholf, bekannter Evolutionsbiologe der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns videobloggt seit einiger Zeit für die WELT-online zu Themen rund um die Evolutionswissenschaften. In seinem "Fenster zur Evolution" behandelte er bislang folgende Themen:


  • Liebe Rehe, wo sind die Hirsche?
  • Warum wir uns die Natur so aufgeräumt wünschen
  • Warum es das Superraubtier gar nicht geben kann
  • Wie der Mensch die Naturgesetze außer Kraft setzt
  • Warum Biber eine Ethikdebatte auslösen können
  • So wirkt sich die Klimaerwärmung aus
  • Warum die Natur unterschiedliche Augen kennt
  • Warum die Blesshühner cooler sind als die Schwäne
  • Warum zieht es Tiere in die Stadt?
  • Warum kann der Mensch die Arten nicht zählen?
  • Warum nutzt der Mensch die Tierwelt so wenig?
  • Alles Öko - und was ist das?
  • Hinterlassen Tiere eigentlich Müll?
  • Warum lieben wir Blumen?
  • Warum ist Gentechnik so gefährlich?
  • Warum haben Vögel einen Schnabel?
  • Warum haben Menschen eine schwere Geburt?
  • Warum haben Vögel eigentlich Federn?
  • Waren unsere Urahnen Vegetarier?
  • Warum gibt es überhaupt Schönheit?
> zum Videoblog von J. Reichholf

Tipp: Schauen Sie doch mal auch bei den Museen und Gärten der Staatlichen Naturwissenschaftlichen Sammlungen Bayerns vorbei:
  • Museum Mensch und Natur München
  • Botanischer Garten München-Nymphenburg
  • Paläontologisches Museum München
  • Geologisches Museum München
  • Museum Reich der Kristalle München
  • Jura-Museum Eichstätt
  • Naturkundemuseum Bamberg
  • Rieskrater Museum Nördlingen
  • Urwelt-Museum Oberfranken
Siehe hier.


Ihr Reinhold Leinfelder

Sonntag, 17. Mai 2009

Evolution und Kreationismus - Vortragsfolien und Erläuterungen


"Wir sind kein reiner Zufall " - Evolution und Kreationismus
von Reinhold Leinfelder

Nein, wer sich gefragt haben sollte, ob der Blogautor nun gar zum Kreationisten geworden sei, wird sich wundern. Dass wir dennoch kein reiner Zufall sind, sondern dass der Zufall innerhalb statistischer, geologischer und biologischer Rahmenbedingungen stattfindet, dass Selektion alles andere als zufällig ist und etliches mehr, davon handeln eigene Vorträge rund ums Darwin-Jahr. Einer dieser Vorträge (gehalten am 6.3.2008) ist nun in Form von kommentierten Vortragsfolien als Webangebot verfügbar.

Nachfolgend finden Sie einige Screenshots aus dem Angebot, welches Sie hier direkt aufrufen können
URL für das Angebot: www.palaeo.de/edu/kreationismus/stellungrl/evolution_und_kreationismus
(oder auch einfacher unter www.palaeo.de/edu/evokrea )








Beispiel dafür, dass evolutionärer Einfluss weit verbreitet ist:




Dennoch wird die Evolutonstheorie nach wie vor stark angefeindet:





Ein besonders krasses Beispiel ist der sog. "Atlas der Schöpfung":



Wichtig ist, zu wissen, wie Wissenschaft arbeitet (und wie nicht), also hier ein kleiner Einschub zur Wissenschaftstheorie:



Und hier ein Beispiel zur Arbeitsweise der vergleichenden Morphologie, die die evolutionäre Verwandtschaft (Homologie) von organischen Bauteilen untersucht:




Natürlich müssen wir auch auf die fehlerhaften Versuche der Kreationisten eingehen, die Evolution mit (Un-)Wahrscheinlichkeiten zu widerlegen:



Kreationismus sehe ich nur als Teil einer wieder stärker um sich greifenden generellen Wissenschaftsfeindlichkeit, woran die Wissenschaftler selbst allerdings auch nicht ganz unschuldig sind:




Hier geht es zum gesamten Webvortrag.

(Für diesen und weitere Vorträge hat Andreas Beyer, Gelsenkirchen, freundlicherweise viele Beispiele zur Verfügung gestellt und weitere Anregungen gegeben, herzlichen Dank!)

Zur Sprachverwirrung rund um Begriffe wie Zufall, Sinn und Zweck finden Sie einen weiteren Eintrag auf diesem Blog.

Samstag, 16. Mai 2009

Let's Talk about Sex (or research it) - die Darwin-Reihe der Süddeutschen ist exzellent

Zitate, Kommentare und Bewertungen zu den neuesten Artikeln der Serie
"200 Jahre Darwin" in der Süddeutschen Zeitung, zusammengestellt von Reinhold Leinfelder.


Über sexuelle Selektion, biologistische Sinnhuberei, Darwins Erkenntniswege und fehlende Zauberschlüssel für Welträtsel




Beitrag (16) Alles, was Sie noch nie über Sex wissen wollten und deshalb auch nie gefragt hätten, finden Sie heute in der Süddeutschen Zeitung.
Nein, dies ist keine Kritik am heutigen Artikel von Christopher Schrader zum Thema "Lohn der Pracht. Grotesker Schmuck und bizarre Vorlieben: Erst die sexuelle Selektion hat Farbe in die Evolution gebracht", sondern ganz im Gegenteil:

Christopher Schrader stellt das häufig viel zu plakativ und vereinfacht dargestellte Thema Sexuelle Selektion nicht nur äußerst gut lesbar, sondern auch sehr differenziert dar. Wussten Sie dass manche Entenvögel blind endende Schein-Vaginas besitzen, welche gewalttätige Erpel austricksen, dass eine Entenart eine spiralförmige Vagina besitzt, die genau zum spiralförmigen Penis des Erpels passt, wodurch das Entenweibchen durch notwendige Mithilfe alleine entscheidet, ob der Erpel zum Zuge kommt oder nicht? Schöne Beispiele für Koevolution (> mehr hierzu in der New York Times). Oder wussten Sie schon, dass manche Insekten ihrer Partnerin nach der Kopulation einen Keuschheitsgürtel verpassen, indem sie den Hinterleib des Weibchens mit einer Flüssigkeit verkleben?

Insbesondere aber ist Christopher Schrader dafür zu loben, dass er platte, biologistische Analogieschlüsse zum menschlichen Geschlechtsleben unterlässt, dennoch aber die biologische Dimension der sexuellen Selektion auch beim Menschen natürlich nicht außer acht lässt - wie könnte man auch, denn nichts ist biologischer als die Fortpflanzung, natürlich auch die menschliche, selbst wenn sie noch so kulturell überprägt und kontrollierbar geworden ist. Sein Fazit lautet:

"Eine Besonderheit der sexuellen Fortpflanzung hat auch beim Menschen wesentlich zum Erfolg der Spezies beigetragen. Weil Frauen im Gegensatz zu den Weibchen im Tierreich kein äußeres Zeichen geben, wann sie ihre fruchtbaren Tage haben, mussten sich Männer mit Kinderwunsch ständig um sie bemühen und immer wieder zum Sex überreden. Weil bei Homo sapiens beide Partner stark investieren, wählen die Paare einander aus: Die Männer achten auf die Fortpflanzungsfähigkeit der Frau, die das Schönheitsideal geprägt hat; sie unterstützt ihr Aussehen mit Kleidung und Schminke. Die Partnerin wiederum schätzt im Aussehen und Verhalten des Mannes vor allem seine Fähigkeit und Bereitschaft, für sie und das Kind zu sorgen.
So entstanden im Lauf der Evolution feste Partnerschaften, in denen Mann und Frau gemeinsam für die Aufzucht des im Vergleich zu anderen Tierarten extrem hilflosen Babys sorgten. Es war die Grundlage der menschlichen Kultur, die Homo sapiens ermöglicht hat, alle Kontinente zu erobern. Und kluge Fragen zu stellen.

(> kompletten Artikel von Christopher Schrader lesen)




Beitrag (15): Kulturkampf der Geschöpfe -
Kreationismus ist ein religiöser Gegenentwurf zu einem Wissenschaftsglauben, der durch Erkennen Lebenssinn gewinnen will.

Von Friedrich Wilhelm Graf.

Dies ist ein überaus differenzierter Artikel zum Thema Kreationismus, der insbesondere auch auf die politische Dimension des Kreationismus eingeht:

Zitat: "Die aktuellen Auseinandersetzungen um den modernen Kreationismus lassen sich nur mit Blick auf den fundamentalpolitischen Gehalt religiöser Schöpfungssprache angemessen deuten. Im Streit zwischen den Anhängern Darwins und den diversen Kreationisten geht es keineswegs nur um die Frage, wer Entstehung und Entwicklung des Lebens richtig versteht. Gekämpft wird um kulturelle Deutungsmacht. Zur Debatte steht erneut das spannungsreiche Verhältnis von wissenschaftlicher Rationalität und religiösem Glauben. Gestritten wird primär über die normativen Grundlagen des Gemeinwesens und verbindliche Ethik."

Graf geht ebenfalls auf die Beziehung zwischen den großen Kirchen und dem Kreationismus ein und beleuchtet hier sehr korrekt, dass es um moralische Deutungshoheiten geht, für die gerne auch mal ein Zweckbündnis geschlossen wird.

Zitat: "Zwar lehnen große protestantische Volkskirchen wie die EKD und die Church of England kreationistische Theorien ab. Doch lässt sich im evangelikalen Spektrum der europäischen Protestantismen viel kreationistisches Denken beobachten.
Die römisch-katholische Kirche nutzt die Kreationismus-Kontroversen gern zur religionspolitischen Profilierung. Sie lehrt Kreatianismus statt Kreationismus, also die Ansicht, dass Gott jede menschliche Seele durch einen je eigenen unmittelbaren Schöpfungsakt ins Leben ruft.
Kreationismus wird in Rom als biblizistischer Irrweg eines schriftfixierten protestantischen wie islamischen Fundamentalismus verworfen. Denn große Zustimmung finden Argumente westlicher protestantischer Kreationisten inzwischen auch im islamischen und jüdisch-orthodoxen Diskurs. In diesen interreligiösen Ursprungsdiskursen geht es um harte Moralpolitik: Kreationisten unterschiedlicher Couleur schließen etwa Zweckbündnisse im Kampf gegen die Akzeptanz von Homosexualität und lehnen gleichgeschlechtliche Partnerschaften als "schöpfungswidrig" ab."

Zur Rezeptionsgeschichte von Darwins Theorie schreibt Graf:

(Zitat) "Die diversen Kreationismen lassen sich nur historisch verstehen. Charles Darwins "Origin Of Species" hatte bei hohen Kirchenvertretern zunächst Begeisterung hervorgerufen. Um 1900 versteht sich die große Mehrheit der Universitätstheologen in den USA und in Großbritannien als Anhängerschaft Darwins. Vor allem im evangelikalen Protestantismus äußert eine Minderheit der Frommen aber lautstark Kritik. Seitdem werden die Religionsgeschichten der englischsprachigen Länder von immer neuen Wellen des Anti-Evolutionismus geprägt.
Eine erste weltweit beachtete Kreationismus-Debatte wird in den 1920er Jahren in den USA geführt. Für die aktuelle Diskussionslage ist die prononcierte Verwissenschaftlichung des Kreationismus seit 1960 entscheidend. Dieser sogenannte Scientific Creationism, der sich auf Außenseiterpositionen der frühen 1920er Jahre beruft, bricht mit den älteren Kreationismen."

Insbesondere gelingt es dem Autor, die gesellschaftspolitischen Ursachen des Kreationismus sowie die teils arroganten Gegenreaktionen konsequent darzustellen:

(Zitat) "Bei europäischen Intellektuellen lässt sich viel arrogante Abwehr des Kreationismus als eines Irrglaubens der unwissenschaftlich Bornierten beobachten. Geboten sind jedoch religionsanalytische Erklärungen seiner wachsenden Erfolge, auch bei Bildungsbürgern. .... Religiöse Fundamentalkritik moderner Zweckrationalität gehört von vornherein zum Projekt der Moderne. Je mehr die schnelle soziale, kulturelle und wissenschaftlich-technische Modernisierung als krisenhaft und zerstörerisch erlitten wird, desto stärker gewinnt die Suche nach neuem festen Halt an Gewicht."

Durchaus als Warnung darf man sein Fazit verstehen:

(Zitat) "In entschiedener Politisierung setzten die amerikanischen Fundamentalisten seit den 1970er Jahren nun umgekehrt darauf, über die Grenzen des eigenen Milieus hinaus antiliberale Zweckbündnisse von Kräften zu schmieden, die die freiheitsdienliche Entkoppelung von Religion und Politik als Wertverlust und verunsichernden Relativismus erfuhren. Man hofft auf neue Ordnung, klare Werte, bindende Orientierung - und genau dazu wird der Schöpfungsbegriff besetzt. Das ist nicht Regression ins Mittelalter, sondern ein höchst moderner religionskultureller Habitus: moderne Antimodernität und immer neue Verschärfung von Kulturkämpfen. ...
Kreationismus ist ein religiöser Gegenentwurf zu einem Wissenschaftsglauben, der Professoren zu Propheten stilisiert und durch besseres Erkennen Lebenssinn gewinnen will. Man muss nur Max Webers kantianische Polemik gegen solche wissenschaftliche Sinnhuberei ernst nehmen, um für Kreationisten partiell Verständnis aufbringen zu können: Sie setzen einer Naturwissenschaft, die sich als naturalistische "Weltanschauung" missversteht, nur eine andere moderne Ideologie entgegen, formuliert in religiösen Sprachspielen. So schreiben die Schöpfungsfundamentalisten, die unter dem modernen Pluralismus leiden, ihn nur auf ihre Weise fort."

Das sollten sich die "Sinnhuberer" unter den Biologen und Naturphilosophen unbedingt ins Stammbuch schreiben, bevor sie Naturwissenschaften wieder einmal zu einer allerklärenden Weltanschauung hochstilisieren.

(> zum kompletten Artikel von Friedrich Wilhelm Graf)






Beitrag (14): Route der Erkenntnis (von Richard Friebe)

Dieser Beitrag könnte eigentlich als Begleitprogramm der Darwin-Ausstellung am Berliner Museum für Naturkunde durchgehen, die sich ja "Charles Darwin - Reise zur Erkenntnis" nennt. Richard Friebe zeichnet in seiner Zusammenfassung nochmals sehr schön die Entwicklung von Charles Darwin vom Sammler zum Forscher nach, fokussiert auf den starken Einfluss, den die Geologie auf Charles Darwin und auf die Erarbeitung der biologischen Evolutionstheorie hatte und zeigt, wie gerade Darwins Untersuchung von Korallenriffen nicht nur in einer heute noch gültigen Rifftheorie mündete, sondern wie damit eigentlich bereits wesentliche Grundzüge der Evolutionstheorie gelegt waren (siehe auch hier). Richard Friebe betont auch nochmals, dass der Besuch der Galapagos-Inseln nur sehr verzögerte wissenschaftliche Auswirkungen bei Charles Darwin zeigte. Als Fazit schreibt Richard Friebe:

(Zitat) "Diese Wandlung Darwins vom Sammler zum Forscher hatte in Rio de Janeiro begonnen. Auf der Fazenda Itaocaia nördlich der Metropole steht seit vergangenem November eine Gedenktafel, die an die "Caminhos de Darwin" erinnern soll. Gemeint sind die Wege des Naturforschers in Brasilien, doch sie stellen den Anfang verstrickter Pfade vom Studenten zum Wissenschaftler dar. Wie die Veränderung der Arten war auch die "Entwicklung von meinem Geist und Charakter", wie Darwin es im Titel seiner Autobiographie formulierte, eine Akkumulation kleiner Schritte - die letztlich in etwas Großem endete."

Also eine sehr schöne Zusammenfassung von Darwins Reise der Erkenntnis - wer dazu Vertiefendes wissen will und auch die Objekte der Originalschauplätze (incl. echter Darwin-Originale) sehen möchte, kann sich ja gerne die Berliner Darwin-Ausstellung ansehen ;-)

(> zum kompletten Artikel von Richard Friebe)
(> zu einem früheren Artikel von Richard Friebe im Handelsblatt zur Rast von Charles Darwin auf der Fazenda Itaocaia)




Beitrag (13): Wie biologisch die Moral ist.
Moral kann doch nicht nach denselben Prinzipien erklärt werden wie die Körperbehaarung! Aber warum eigentlich nicht? Was uns die Biologie vorschreibt - und wo sie Spielraum lässt. (von Kurt Bayertz)

Ein sehr differenzierter und dadurch vorbildlicher Artikel zum Beitrag evolutionärer Aspekte zum Thema Moral und Ethik. Der Artikel sollte in Gänze gelesen werden, denn einzelne Zitate können den sehr gut gelegten roten Faden nicht unbedingt reflektieren. Einige Auszüge seien dennoch als Appetithäppchen nachfolgend wiedergegeben:

Bayertz zur Grundidee einer "evolutionären Ethik":

"Die Grundidee einer solchen "evolutionären Ethik" besteht darin, dass der Mensch kein übernatürliches, sondern ein biologisches Wesen ist, dessen Lebensäußerungen von biologischen Faktoren abhängt. Auch die Moral macht davon keine Ausnahme. Und wenn das so ist, dann kann für sie ebenso eine evolutionäre Erklärung gegeben werden, wie für alle anderen Verhaltensweisen oder körperlichen Merkmale des Menschen.

In ihrem Kern besteht eine solche Erklärung immer darin, die Vorteile zu identifizieren, die ein solches Verhalten oder Merkmal für die "Fitness", also den Fortpflanzungserfolg der betreffenden Organismen bietet. Auf lange Sicht, so die einleuchtende Grundthese, kann sich auch moralisches Verhalten nur dann durchsetzen, wenn es zu einer möglichst zahlreichen Nachkommenschaft beiträgt. ....

Aber was heißt hier Moral? Nehmen wir etwa einen Verhaltensforscher, der mit Schimpansen arbeitet und beobachtet, wie das eine Tier dem anderen zur Hilfe kommt oder es tröstet, nachdem dieses von einem Artgenossen angegriffen wurde.

Nehmen wir weiter an, dass sich die Beispiele für empathisches, dankbares oder altruistisches Verhalten als keineswegs selten erweisen. Daraus kann dann geschlossen werden, dass das moralische Handeln von Menschen nur ein spezieller Fall einer viel allgemeineren, auch unter Tieren verbreiteten Disposition zu moralischem oder proto-moralischen Verhalten ist. ...

Ähnlich ist es mit den Befunden der Soziobiologie, nach denen die Opfer, die (tierische ebenso wie menschliche) Eltern für ihre Kinder erbringen, eine solide genetische Basis haben. Da Fürsorge für die eigenen Kinder zweifellos eine moralische Norm ist, kann der Soziobiologe auf biologische Wurzeln dieser Norm verweisen.
"

Nun aber zeigt Bayertz die Erforschungsproblematik auf:

"Bevor wir uns über dieses Ergebnis allzu sehr freuen, sollten wir aber eine Frage stellen. Woher weiß der Verhaltensbiologe, dass gerade das Trösten eines angegriffenen Tieres (proto-)moralisch ist? Immerhin ist der getröstete Affe ja von einem Artgenossen angegriffen worden; warum gilt dieser Angriff nicht als (proto-)moralisch?"

Die Schlussfolgerung hieraus ist so einfach wie essenziell:

"Primaten, so sehen wir an diesem Beispiel, haben ein Verhaltensrepertoire, das Empathie ebenso einschließt wie Aggression. Beide Verhaltensweisen sind "natürlich" und beide, so nehmen wir an, haben eine biologische Funktion.
Wenn unser Verhaltensforscher nur die erste der beiden als Wurzel der menschlichen Moral charakterisiert, so geht er von einem kulturell geprägten Vorverständnis von dem aus, was "moralisch" ist und was nicht.
Allgemein ausgedrückt: Eine evolutionäre Ethik kann zwar ein bestimmtes Verhalten biologisch erklären, sie kann es aber nicht aus biologischen Gründen als (proto)moralisch charakterisieren.
Das heißt: Eine biologische Ethik kann ihren Gegenstand nicht aus sich selbst heraus bestimmen. Sie ist nicht voraussetzungslos, sondern muss sich von anderer Seite sagen lassen, was Moral überhaupt ist - und kann erst dann nach ihren biologischen Wurzeln fahnden. .. Dass es, wie wir hier sehen, kein biologisches Moralitätskriterium gibt, ist zwar kein Fehler der evolutionären Ethik. Es zeigt aber eine prinzipielle Grenze jeder Biologisierung der Ethik.
Die Relevanz dieses Punktes ist beträchtlich. Sie zeigt sich daran, dass um die Frage, was Moral eigentlich ist, ausgedehnte Debatten geführt werden: nicht nur in der Philosophie, sondern in modernen Gesellschaften allgemein."

Damit kommt Bayertz zur Bedeutung einer philosophischen Ethik:

"Denn die Moral ist zugleich enger und weiter als der Altruismus. Enger, weil nicht jedes altruistische Verhalten moralisch ist. (Wer Geld stiehlt, um es zu verschenken, handelt vielleicht altruistisch, aber nicht moralisch.) Weiter, weil die Moral unverzichtbarerweise Gerechtigkeit einschließt.
Diese ist nicht auf Altruismus reduzierbar, denn sie folgt einer ganz anderen "Logik": einer Logik der Unparteilichkeit, deren biologische Wurzeln mehr als dünn sind. ...

Beim Menschen ist das aber anders. Menschen verhalten sich nicht nur moralisch; sie verfügen auch über moralische Normen, nach denen sie ihr Handeln wechselseitig bewerten. Wenn im Alltag von "Moral" die Rede ist, meinen wir oft gerade die moralischen Normen.Und die philosophische Ethik nimmt das tatsächliche Verhalten von Menschen meist nur beiläufig in den Blick und konzentriert ihre Aufmerksamkeit auf einzelne Normen oder auch ganze Normengefüge.

Dieser Unterschied zwischen evolutionärer und philosophischer Ethik verdient festgehalten zu werden. Denn zwischen Verhalten und Normen besteht ein kategorialer Unterschied. Das erstere ist ein körperlicher Vorgang, der unmittelbar an die jeweilige biologische Konstitution des betreffenden Organismus gebunden bleibt und daher mit den Mitteln der Biologie gut untersucht werden kann. Normen hingegen lösen sich von dieser biologischen Konstitution mehr oder weniger ab. Sie entstehen als implizite verallgemeinerte Verhaltenserwartungen zwischen den Individuen. Sie können dann explizit versprachlicht und bisweilen auch verschriftlicht werden. In einigen Fällen werden sie darüber hinaus auch förmlich institutionalisiert, etwa im Recht. Auf diese Weise gewinnen sie ein außerbiologisches Dasein. Ähnlich wie Werkzeuge, können sie als Artefakte aufgefasst werden, die eine (relativ) selbständige Existenz haben. Ein Faustkeil ist zunächst nur eine Verlängerung der menschlichen Hand; im Unterschied zu ihr kann er aber von verschiedenen Personen benutzt, in der Generationenfolge vererbt und schrittweise verbessert werden.
Beispiel Faustkeil: Während die Hand als Organ eng an biologische Faktoren gebunden bleibt, entgleitet der Hammer diesen Faktoren und gerät unter den Einfluss anderer, die sich als "kulturell" charakterisieren lassen.
Ähnliches geschieht mit den moralischen Normen. Entstanden als verallgemeinerte und versprachlichte Verhaltenserwartungen, lösen sie sich von diesen biologischen Wurzeln. Sie können (wie der Faustkeil) von mehreren Individuen geteilt und in der Generationenfolge weitergegeben werden."

Hier das Fazit des Autors:

"Daraus lassen sich zwei Einsichten gewinnen. Die erste besteht darin, dass die Freilegung ihrer biologischen Wurzeln kein Anschlag auf die Moral ist. Eine wirkliche Provokation kann die evolutionäre Ethik nur für diejenigen sein, die daran festhalten wollen, dass die Menschheit die moralischen Normen auf dem Berg Sinai von höchster Stelle fix und fertig mitgeteilt bekommen hat.
Die zweite Einsicht besteht darin, dass mit der Freilegung ihrer biologischen Wurzeln noch lange nicht alles über die Moral gesagt ist. Selbst über Bäume gibt es mehr zu wissen, als die Biologie uns vermitteln kann. Die Zeiten eines Ernst Haeckel, der die Evolutionstheorie für den Zauberschlüssel zur Lösung aller Welträtsel hielt, sollten vorbei sein."

Der reflektierte Artikel von Kurt Bayertz zeigt, wie wichtig der konstruktive Dialog sowie das interdisziplinäre Arbeiten zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist.

(> zum kompletten Artikel von Kurt Bayertz).

Kurt Bayertz lehrt praktische Philosophie an der Universität Münster. Er veröffentlichte u.a. das Buch "Warum überhaupt moralisch sein?" (Verlag C.H. Beck, 2004)




Auf frühere Artikel der Serie 200 Jahre Charles Darwin möchte ich hier nicht weiter eingehen, sie sind jedoch ausnahmslos lesenswert und alle hier aufrufbar: www.sueddeutsche.de/darwin

Herzlichen Glückwunsch an die Redaktion Wissen der Süddeutschen Zeitung und ihre Mitarbeiter für diese exzellente Serie!

PS: Wie ich gerade bemerke, gibt es tatsächlich noch einen Blogeintrag einer amerikanischen Bloggerin mit demselben Titel ;-)

Abbildungen:
Mandrill aus Wikimedia Commons, > Autorin
Eva und die Dinosaurier aus DIE WELT
Schild an der Fazenda Itaocaia von Richard Friebe im Handelsblatt
Moral vom Dulcinea-Blog


Reinhold Leinfelder, 16.5.2009

Montag, 11. Mai 2009

Filmclip der BBAW zu Evolution in Natur, Technik und Kultur

Das Jahresthema 2009 | 2010 der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften

Evolution in Natur, Technik und Kultur




WAS IST EVOLUTION? Filmclip (7:33 min., Flashformat) in Kooperation mit Studierenden der Mediadesign Hochschule Berlin.

Was bedeutet die Entschlüsselung des Genoms für unsere Zukunft? Lässt sich globaler Wandel als evolutionärer Prozess beschreiben? Welche Stellung nimmt der Mensch innerhalb der Evolution ein? Haben wir einen freien Willen oder werden wir von egoistischen Genen gesteuert? Hat nicht längst die Kultur die biologische Evolution überwunden? Warum wird gerade jetzt die Kooperation als Evolutionsfaktor wiederentdeckt? Und nicht zuletzt: Ist die Evolution eine bewiesene Tatsache oder nur eine wissenschaftliche Theorie, wie der PISA-Test 2006 behauptet?


Dieses Bündel ganz unterschiedlicher Fragen illustriert das inhaltliche Spannungsfeld, in dem sich das neue Jahresthema 2009 | 2010 der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften „Evolution in Natur, Technik und Kultur“ bewegt. In Kooperation mit anderen wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen widmet sich die Akademie in den nächsten beiden Jahren der Reflexion solcher Fragestellungen aus natur- und vor allem kulturwissenschaftlichen Perspektiven.



> weiterlesen

Samstag, 9. Mai 2009

Archaeopteryx hilft Darwin

Dass gerade der Urvogel Archaeopteryx, halb Dinosaurier, halb Vogel eine überragende Bestätigung für die Evolutionstheorie darstellt, wissen auch die Kreationisten, die deshalb häufig unterstellen, dass es bei Archaeopteryx nicht mit rechten Dingen zugehe (wir berichteten bereits auf diesem Blog). Weniger bekannt ist, wie das erste Exemplar dieser ausschließlich in der Region Eichstätt und Solnhofen (Bayern) gefundenen Fossilien nach London abflatterte und das zweite, wohl berühmteste und am besten erhaltene Exemplar, das Berliner Exemplar, ins Berliner Museum für Naturkunde kam.

Michel de Pracontal, ein Wissenschaftsredakteur des "Le Nouvel Observateur" besuchte unser Museum und war von der Fundgeschichte derart angetan, dass er sie gleich in einem Blog der französischen Zeitung wiedergab. Als kleine Reminiszenz an seinen Besuch bildete er auch gleich seine Berliner Eintrittskarte mit ab.

Für Liebhaber der französischen Sprache sei sein Blogeintrag nachfolgend wiedergegeben. Übrigens berichtet Michel de Pracontal während des Darwinjahrs jeweils über besondere Ereignisse in den Lebensjahren Darwins in seinem retrochronologischen Darwin-Blog. Er begann mit Darwins Todesjahr, 1882 und blätterte bisher (Stand 9.5.09) zurück bis zum Jahr 1859, also dem Jahr des Erscheinens der "Origins of Species".

Sein Archaeopteryx-Blogeintrag ist Beispiel für das Jahr 1861, in dem das erste Exemplar des berühmten Urvogels auch gefunden wurde.

Viel Spaß beim Lesen, Ihr Reinhold Leinfelder

Darwin 1861: L'Archaeoptéryx soutient l'évolution

Par Michel de Pracontal

En 1861 fut découvert dans une carrière de calcaire datant du Jurassique, située à Solnhofen, en Bavière, un étrange animal fossile qui présentait des caractères l'apparentant à la fois aux oiseaux et aux reptiles. Dénommé «Archaeoptéryx» - «ancienne aile» -, l'étrange spécimen fut offert à un médecin collectionneur, le docteur Karl Haberlein, en règlement d'honoraires.

La découverte fut divulguée par un paléontologue de Francfort, Hermann von Meyer (1801-1869). Le monde scientifique réalisa aussitôt que le fossile bavarois constituait une preuve cruciale en faveur de la théorie de l'évolution de Darwin. L'Archaeoptéryx apparaissait comme le chaînon manquant entre les oiseaux actuels et les reptiles de la préhistoire. Dans son «Origine des espèces» publiée deux ans plus tôt, Darwin postulait l'existence de telles formes intermédiaires. Son adversaire Richard Owen, comprenant aussitôt l'enjeu que représentait ce fossile, se chargea personnellement de négocier avec Häberlein pour acquérir l'Archaeoptéryx, qui atterrit au Museum d'histoire naturelle de Londres le 1er octobre 1862. La transaction représenta au total 700 livres sterling, contre lesquels le muséum britannique reçut 1.703 spécimens de la collection d'Häberlein.

Bien entendu, c'est surtout l'Archaeoptéryx qui intéressait Owen. Il entreprit une étude détaillée du fossile, sans trop laisser ses concurrents l'examiner. Owen conclut que la bestiole n'était pas une forme intermédiaire, comme le pensaient les évolutionnistes, mais un oiseau archaïque. ..."

(> weiterlesen)

Mehr zur Fundgeschichte und zur Archaeopteryx-Wissenschaft:

Sonntag, 3. Mai 2009

Another One Bites the Dust - Musik als Rätsel der Evolution

"Warum Menschen Musik machen und genießen, ist ein Rätsel der Evolution. ... Die aktuellen Resultate machen die Idee plausibel, dass diese Fähigkeit als Nebenprodukt unserer Fähigkeit entstand, Stimmen zu imitieren."

Dies ist das Fazit einer wissenschaftlichen Analyse zur Wirkung von Musik auf Tiere, von der DER SPIEGEL - online am 2.5. berichtet. Im Fachmagazin "Current Biology" kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass nicht nur Menschen zu rhythmischer Musik tanzen können sondern auch Vögel - vor allem Papageien. Die Wissenschaftler beschäftigten sich unter anderem mit einem Kakadu namens "Snowball".



Video: Kakadu Snowball, ein echter Backstreet Boy.

Aus SPIEGEL online:
"Auf YouTube ist "Snowball" schon lange ein Star: Der Kakadu zeigt dort in mehreren Videos seine tänzerischen Qualitäten. Taktsicher bewegt er sich zu Hits wie Queens "Another One Bites The Dust" oder "Everybody" von den Backstreet Boys (siehe Videos). Er wiegt im Takt mit dem Kopf, stampft mit dem Fuß und schwingt seinen Körper. Auf "Snowball" wurden auch Wissenschaftler aufmerksam. Denn bislang galt die rhythmische Bewegung als alleinige Domäne des Homo sapiens. Die Psychologin Adena Schachner von der Harvard University und der Neurowissenschaftler Anniruddh Patel vom Neurosciences Institute in San Diego werteten seine Videos und noch viele weitere aus."



Video: Snowball tanzt zu "Another One Bites the Dust"

...
"Dass gerade diese sprachbegabten Vögel besonders musikalisch sind, deuten US-Forscher als Beleg dafür, dass die Musikalität ein Nebenprodukt der Sprachentwicklung ist. "Es gibt kein überzeugendes Indiz dafür, dass unsere nächsten Verwandten - Schimpansen und andere Affen - einen Takt halten können", sagt Schachner. "Auch Hunde und Katzen können ihre Handlungen nicht einem Rhythmus anpassen, trotz ausgiebiger Erfahrung mit Menschen." Auch von Wildvögeln war nicht bekannt, dass sie sich synchron zu Tönen bewegten."
"... Anniruddh Patel schließt daraus, dass die Fähigkeit des Gehirns, komplexe Sprachmuster zu erlernen, Voraussetzung für das Erfassen eines Rhythmus ist. Den Zusammenhang sieht der Forscher in der abgestimmten Koordination von Gehör und Motorik."

Das ist ein echter "Ach Du lieber Darwin!", nicht wahr?
:-)

> ganzen Artikel in SPIEGEL online lesen



Video: Snowball and Stevie Nicks

(eingestellt von Reinhold Leinfelder am 3.5.09)

Samstag, 2. Mai 2009

Charles Darwin zur Einführung (von Julia Voss)

Julia Voss' Einstiegsbuch zu Darwin gehört sicherlich zu den beachtlichsten Neuerscheinungen im Darwin-Jahr, nachfolgend finden Sie Ausschnitte aus einer sehr informativen Rezension in der "Berliner Literaturkritik" vom 21.4.09

Typisch Darwin: Kampf ums Erbe
Julia Voss’ Einführung in Charles Darwins Evolutionstheorie
© Die Berliner Literaturkritik, 21.04.09 (von Mirco Drewes)

Charles Darwin hat mit seinem 1859 veröffentlichten Werk „Origin of Species“, in Deutschland unter dem Titel „Die Entstehung der Arten“ erschienen, Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Seine Evolutionstheorie veränderte den Blick auf die Entstehung und die kosmologisch verbürgte Ordnung von Flora und Fauna grundlegend. Unter den Erkenntnissen und Schlussfolgerungen des studierten Theologen Darwin wandelte sich die Schöpfungsgeschichte zu einem chaotischen und wechselvollen Szenario, in welchem Anpassung an sich ändernde Lebensbedingungen über das Überleben oder Aussterben von Organismen entscheidet und in welchem Wandel und fließende Übergänge unter den Arten das einzig Konstante scheint.
...
Gerade in Zeiten kollektiver Existenzängste wird „Darwinismus“ zur Metapher für den Überlebenskampf unterschiedlicher Gesellschaftsschichten oder Kulturformationen gegeneinander stilisiert; im Wesentlichen sind die Argumentationsmuster auf denselben Reflex zurückzuführen, wie im Fall der sozialpolitischen Debatten des biologistischen Rassismus. Die Evolutionstheorie von Charles Darwin wird mal zynisch-agitatorisch, mal kritisch-konservativ für oder gegen allerhand Diskurse mobilisiert. Es bleibt die Frage, inwiefern die hergebrachten Denkmuster über den „Darwinismus“ ernst zu nehmende Schlussfolgerungen der darwinschen Evolutionstheorie darstellen oder es sich um das ungenaue Aufgreifen von Schlagworten und das Fortschreiben einer schwierigen Rezeptionsgeschichte handelt. Mit anderen Worten: Wie viel Darwin ist tatsächlich im „Darwinismus“?
Diesen Fragen hat sich FAZ-Redakteurin Julia Voss angenommen, die der Reihe „… zur Einführung“ des Hamburger Junius-Verlages den Band zu Charles Darwin hinzugefügt hat. Um einen Einblick in die Evolutionstheorie geben zu können, ist es erforderlich, Darwins Theorie im Wissenschaftsdiskurs seiner Zeit zu verorten. Julia Voss beschreibt hierzu detailliert und pointiert die Rezeptions- und Entstehungsgeschichte der Veröffentlichungen Charles Darwins und umreißt dabei präzise den zeitgenössischen Stand der Naturforschung. Ziel der Auseinandersetzung ist es, zu einer kulturwissenschaftlich fruchtbaren Einordnung des Werkes Charles Darwins zu gelangen. Daher werden die biografischen Elemente dieser Einführung stets auf das handlungsleitende Interesse bezogen. Nebenbei entwirft Julia Voss ein eindrückliches Panorama der Forschungslandschaft und -methoden im England des 19. Jahrhunderts, spannend und aufschlussreich zu lesen wie eine gut geschriebene Reportage.
...
Darwins Theorie wurde in der Öffentlichkeit diskutiert, journalistisch besprochen und vielfach satirisch aufbereitet. Julia Voss räumt in ihrer Darstellung der Rezeptionsgeschichte mit dem Mythos des Wissenschaftsskandals durch das Formulieren der Evolutionstheorie gründlich auf. Zwar spalteten Darwins Erkenntnisse die Öffentlichkeit in Befürworter und Gegner, aber von einem Aufschrei seitens der Kirche oder breiter Bevölkerungsschichten kann keine Rede sein. Naturforschung und die Ergründung des Ursprungs des Lebens stießen auf großes Interesse und so wurden auch Darwins Theorien abwägend diskutiert und häufig humoristisch verhohnepipelt, wobei sich deren Schöpfer als äußerst beflissener Brief-korrespondent mit Wissenschaftskollegen, Zeitungen und sogar Hobbyforschern beteiligte und teilweise großen Humor bewies.
Zwar sprach Sigmund Freud von der Evolutionstheorie als „großer narzisstischer Kränkung in der Menschheitsgeschichte“, neben derjenigen durch die astronomische Revolution des Kopernikus und durch seine eigene Psychoanalyse und das daraus resultierende Menschenbild. Darwin wurde aber in alle wichtigen wissenschaftlichen Gesellschaften berufen und mit Ehrungen überhäuft, so dass Freuds Einschätzung, zumindest im Hinblick auf die realen Reaktionen des öffentlichen Lebens, als nachträgliche Mythenbildung anzusehen ist. Darüber hinaus fiel die Evolutionstheorie nicht vom Himmel bzw. Darwin genialisch in den Schoß. In „Origin of Species“ setzte sich Darwin selbst mit den Vorläufern seiner Theorie auseinander, zum einen aus wissenschaftlicher Redlichkeit, zum anderen reihte er sich bereitwillig in Forschungstraditionen ein, da ihm der Gestus des Revolutionärs selbst nicht besonders behagte.
...
Zu den Vorwürfen, Darwin sei Atheist, Rassist oder vertrete eine kalte, erbarmungslose Weltsicht, in welcher, im Sinne Hobbes’, ein Krieg aller gegen alle ums Überleben stattfinde, nimmt Julia Voss am Ende ihrer Einführung kritisch Stellung. Darwins Evolutionstheorie muss zur Beantwortung dieser Fragen auf ihren historischen Kontext bezogen werden. Charakteristisch für die Verklammerung von Theologie und Naturforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Betrachtung der Tier- und Pflanzenwelt war das „argument from design“, welches 1802 in William Paley einen einflussreichen Vertreter gefunden hatte, dessen „Natürliche Theologie“ auch auf Deutsch und Französisch erschienen war. Dieser Position zufolge, die sich sicher in einer Traditionslinie bis Descartes zurückverfolgen ließe, sei die unverkennbare und Maschinen ähnliche Zweckmäßigkeit der tierischen und pflanzlichen Organe auf ein intelligentes Schöpfungsdesign zurückzuführen, für welches letztlich Gott verantwortlich zeichne.

Demgegenüber war Darwins Anpassungslehre und sein Fokus auf das Ungeordnete und auch Unzureichende des Evolutionsprozesses, seine Theorie des gemeinsamen Ursprungs aller Arten natürlich „profan“, in einem Sinne freilich, der zur Etablierung des naturwissenschaftlichen Denkens und zur institutionalisierten Eigenständigkeit der Biologie als Wissenschaft beitrug. Darwin selbst kamen durch seine Studien Zweifel an einem Schöpfergott, allerdings blieb er mit der Religion Zeit seines Lebens in privatem Einklang und hielt sie für das Leben des Menschen und seine Sittlichkeit wohl für unerlässlich. Julia Voss präsentiert dazu sensibel interpretiert die Briefe der Ehefrau Darwins, Emma Darwin, geborene Wedgwood. Diese sorgte sich ob der gedanklichen Veränderungen und der zunehmenden Skepsis ihres Mannes hinsichtlich der Existenz Gottes und schrieb ihrem Mann dazu zwei Briefe, die er mit großer Dankbarkeit aufnahm und die die Eheleute einander noch näher brachten. Ein aufschlussreicher Blick hinter die Kulissen, der die aus der Rezeptionsgeschichte entstandenen Vorstellungen eines naturwissenschaftlichen Angriffs auf die Religion hanebüchen erscheinen lässt. Darwin hielt es mit der Religion im Sinne eines lebenspraktischen Kantianismus.
Als Rassist in seiner Forschung kann Darwin ebenfalls nicht bezeichnet werden. Er lehnte die Einteilung des Menschen nach rassischen Kriterien ab und glaubte nicht an eine evolutionäre Hierarchie der menschlichen Ethnien. Während beispielsweise in Deutschland Ernst Haeckel Studien über die evolutionäre Nachbarschaft zwischen Afrikanern und Gorillas veröffentlichte, verglich Darwin in „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“ lieber wohlhabende Engländer und deren Haustiere im Hinblick auf die Ähnlichkeit der gezeigten Emotionen. Vor arroganten kultur-imperialistischen Äußerungen gegenüber der Ur-Bevölkerung Feuerlands schreckte er jedoch – absolut typisch für seine Zeit – nicht zurück.

Zu guter Letzt ist die landläufige Vorstellung des „Darwinismus“ als Ideologie des Überlebenskampfes der Individuen gegeneinander zu korrigieren. Voss belegt überzeugend die Grundlegung dieser Fehlinterpretation der Evolutionstheorie gerade in Deutschland durch die sehr unglücklichen und nicht autorisierten (Autoren- und Urheberrechte waren im 19. Jahrhundert noch kein justiziables Thema) Übersetzungen von „Origin of Species“. Im Kern besagt Darwins Theorie nichts weiter, als dass die bestangepassten Organismen überleben, wozu auch kollektive Strategien von Solidarität und Fürsorge beitragen können. Die von Darwin verwendeten Begriffe im Themenbereich der Selektion wie „struggle“ oder „survival of the fittest“ wurden durch die deutschen Übersetzer mit „Kampf“ oder „Überleben des Stärkeren“ unglücklich oder mutwillig falsch wiedergegeben.
Als problematisch für die Darwin-Interpretation hat sich zudem dessen Übernahme der Sozialphilosophie von Thomas Malthus erwiesen, der ein stärkeres Wachstum der Bevölkerung als der Nahrungsmittelressourcen prognostizierte und daher die Idee eines Kampfes um Lebensgrundlagen auf den Menschen übertrug. Zwar adaptierte Darwin dieses Modell in Hinsicht auf die Notwendigkeit, kulturelle Überlebenstechniken entwickeln zu müssen, die Korrumpierbarkeit dieser Vorstellung liegt auf der Hand. Wie sich gezeigt hat, war die Prognose Malthus’ zudem falsch, die gegenwärtige Welt hat vielmehr das Problem ungleicher Verteilung. Heutigen biologistisch argumentierenden Rassisten oder den Allmachtsfantasien der Gen-Designer gegenüber hätte Darwin wohl auf die natürliche Variation und den Faktor Zufall als Prinzipien der Evolution verwiesen, die nicht als „gut“ oder „schlecht“ planbar ist.

Julia Voss ist eine sehr informative und spannend zu lesende Einführung in Leben und Werk Darwins gelungen. Den kritischen Horizont der Evolutionstheorie leuchtet sie überzeugend und plausibel aus, zudem weiß ihre Darstellung durch eine sinnvolle Gliederung zu gefallen, die Biografisches, die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Evolutionstheorie berücksichtigt und in gebotener Präzision deren theoretischen Kern diskursiv offenlegt. Als Einstieg in ein Studium des berühmten Naturforschers kann „Charles Darwin zur Einführung“ nur empfohlen werden, aber auch als unterhaltsames Stück Wissenschaftsgeschichte ist sie sehr lesbar, gerade aufgrund der kulturkritischen Perspektive auf das umstrittene Erbe Darwins.

Von Mirco Drewes

Literaturangaben:
VOSS, JULIA: Charles Darwin zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2008. 217 S., 13,90 €.

> zur gesamten Rezension

Evolutionäre Medizin

Und gleich noch ein Hinweis auf einen interessanten online-Artikel fürs Wochenende:

Genetisches Erbe
Die Evolution des Menschen kommt nicht hinterher

von Elke Binder, DIE WELT online 29.4.09

Wir tragen die Gene des Steinzeitjägers: Doch die Lebensumstände haben sich so rasant verändert, dass die Anpassung unseres Erbguts zurückbleibt. Was früher ein Überlebensvorteil war, hat sich ins Gegenteil verkehrt – Krebs etwa war vor 10.00 Jahren kein Thema. Diese Erkenntnis will die Medizin nutzen.

Wenn Randolph Nesse vor Ärzten spricht, dann muss er stets Überzeugungsarbeit leisten. Der US-Forscher von der University of Michigan in Ann Arbor ist einer der Väter der evolutionären Medizin. Seit den 90er-Jahren hat er unermüdlich herausgearbeitet, welche Bedeutung Darwins Theorie für die heilende Zunft hat. Viele traditionell orientierte Mediziner aber halten einen solchen Ansatz für „Hokuspokus“, beklagt Nesse. Manchmal werfen sie ihn sogar in einen Topf mit der in ihren Kreisen so umstrittenen Homöopathie. Ärzte würden in ihrer Ausbildung einfach zu wenig über Evolution lernen, um deren Rolle bei der Entstehung vieler Krankheiten erfassen zu können.

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Wieso hat uns die Evolution so anfällig für Krankheiten gemacht? Weshalb plagen uns Rückenschmerzen und Bluthochdruck, ganz zu schweigen von Herzinfarkt, Krebs oder Alzheimer? Sollte die natürliche Selektion unsere Körper nicht perfekt gestaltet haben?
Nein, heißt darauf ganz klar die Antwort. Die Gründe dafür sind vielfältig. Einen gibt Detlev Ganten, bis vor Kurzem Chef der Berliner Charité-Universitätsmedizin, der sich in Deutschland für eine evolutionäre Sichtweise in der Medizin einsetzt. „Wir sind für das Leben als Jäger und Sammler geschaffen worden“, sagt Ganten. „Viele der damals entstandenen Eigenschaften sind aber den heutigen Bedingungen des Lebens nicht mehr angepasst.“ Kurzum: Wir leben im 21.Jahrhundert mit Steinzeitgenen. Wir sind an die Umwelt der Zeit von vor 2,5 Millionen bis 10.000 Jahren angepasst, als der moderne Mensch sich herausbildete, nicht an langes Sitzen im Büro, Pommes frites und Eiscreme.

Unsere jetzige Umwelt existiert noch nicht lange genug, als dass die Evolution unsere Körper auf die neue Lebensweise hätte abstimmen können. Wie das schiefgehen kann, zeigt Gantens Forschungsgebiet, der Bluthochdruck. Vor zwei Millionen Jahren waren die ersten Menschen der Gattung Homo in den Savannen Afrikas zu Hause, wo Salze und Wasser knapp waren.

Sie verloren diese zudem mit dem Schweiß, denn es war heiß, und unsere Vorfahren bewegten sich als Jäger und Sammler viel. Das sogenannte Renin-Angiotensin-System (RAS) unseres Körpers, ein Regelkreis aus mehreren Hormonen, entwickelte sich daher so, dass es den Blutdruck unter allen Umständen aufrecht erhalten und ein Austrocknen verhindern konnte.


Noch heute funktioniert dieses System so, als müsse es einen Mangel an Salz und Wasser regulieren. Tatsächlich aber bewegen wir uns wenig und konsumieren viel Salz. Die Folge: Das RAS ist überaktiviert, der Bluthochdruck bei 50 Prozent der erwachsenen Bevölkerung zu hoch. Unbehandelt drohen Schlaganfall oder Herzinfarkt. „Der Prävention kommt somit eine zentrale Bedeutung zu“, folgert Ganten. „Wir müssen körperlich aktiver werden, weniger essen und Salz sparsamer verwenden.“ Ein bisschen so wie unsere Vorfahren in der Steinzeit halt. In einigen Fällen, so Ganten, sei es aber zudem notwendig, Bluthochdruck medikamentös zu senken.

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Beispiel Bluthochdruck: Vermutlich hatten Menschen, bei denen er leicht erhöht war, einen Vorteil, denn er bewirkt eine bessere Durchblutung von Organen und Muskeln und machte sie somit leistungsfähiger.
Das damit verbundene höhere Risiko von Herzversagen tritt meist erst in höherem Lebensalter auf. Viele Steinzeitmenschen haben dieses aber sowieso nicht erreicht, sie starben früh durch Infektionen und wilde Tiere. Vor allem aber hatten sie dann schon Nachkommen gezeugt. Und allein das zählt für die Evolution. „Gesundheit ist nicht das Ziel der Selektion“, sagt der US-Forscher Nesse. „Es ist Vermehrung."

Was erst im Alter schädlich ist, nachdem die reproduktive Phase abgeschlossen ist, befindet sich, so formuliert es auch Ganten „im toten Winkel der Evolution“. Diese Sichtweise kann auch erklären, warum wir unter Krebs leiden. Der Biologe Mel Greaves vom Institute for Cancer Research in London verdeutlichte 2003 in seinem Buch „Krebs – der blinde Passagier der Evolution“, dass der Krankheit jene Gene zugrunde liegen, denen wir die Entwicklung unseres Körpers verdanken.

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In die Erbanlagen, die aus einem Embryo ein Lebewesen mit Billionen von Zellen wachsen lassen, können sich bei den zahlreichen Zellteilungen Kopierfehler einschleichen. Das kann dann statt zu geregeltem Wachstum zu unkontrolliertem Wuchern von Zellen führen – also zu Krebs.

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Selbst die Steinzeitmenschen waren nicht unfehlbar an ihre Umwelt angepasst. Der aufrechte Gang etwa machte sie zu geschickten Generalisten, doch belastet er die Wirbelsäule und führt häufig zu Rückenschmerzen.


Die Evolution arbeitet nicht perfekt: Neben solchen Kompromissen hat unser Körper auch eine ganze Menge Merkmale, die schlichtweg Fehlkonstruktionen sind. Sie sind ein Erbe unserer Geschichte. Denn die Evolution konnte nie bei null anfangen, sie musste immer mit dem, was sie vorfand, arbeiten. Paradebeispiel für eine suboptimale Konstruktion ist unser Auge. Die Netzhaut ist falsch herum angelegt: Die lichtempfindlichen Zellen werden von mehreren darüber liegenden Schichten aus Nervenzellen und Blutgefäßen behindert. Dieser Bau kann zu Problemen führen, etwa bei Diabetikern. Bei ihnen können sich die Blutgefäße vermehren – man spricht dann von einer Retinopathie. Da sie sich über der Netzhaut befinden, kann die Sicht so erheblich eingeschränkt werden.


(> gesamten Artikel lesen)

(eingestellt von R. Leinfelder am 2.5.09)
(Abb. aus www.mohn.ch/docs/ergo_02.jpg)

Nachtrag vom 18.10.09: weitere Infos zu evolutionärer Medizin auf diesem Blog

Kreationisten und Schildkröten

Dass es Kreationisten mit dem Zitieren nicht so genau nehmen bzw. die Zitate aus dem Zusammenhang reißen oder unerwünschte einfach weglassen, wurde schon in einem früheren Beitrag auf diesem Blog exemplarisch belegt. Dr. Hansjörg Hemminger, Biologe und Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg schildert sehr differenziert ein weiteres aktuelles Beispiel, nämlich die Entstehung der Schildkröten, die laut der kreationistischen Gruppe Wort + Wissen angeblich nicht evolutionär erklärbar sei.

Nachfolgend finden Sie Auszüge sowie einen Link zum gesamten Artikel:

Die Evolution des Schildkrötenpanzers
Oder: Die Auflösung eines kreationistischen Arguments

von Hansjörg Hemminger

Die Evolution des Schildkrötenpanzers ist nicht gerade ein Thema, das öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht. Aber an ihm lässt sich verdeutlichen, wie der Kreationismus gegenüber der Naturwissenschaft argumentiert und agiert. Die Ausgangsposition der hier zu schildernden Debatte wird durch einen Artikel auf der kreationistischen Internetseite Genesisnet (Junker 2008a) zum Thema "evolutionäre Entwicklungsbiologie" markiert.
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Der Zweck des 45 Seiten langen Artikels von Reinhard Junker ist, die Erklärungskraft von Evo-Devo anzugreifen, um weiter an der Behauptung festhalten zu können, dass bisher kein Mechanismus für makroevolutionäre Veränderungen bekannt sei (Junker 2008a). So schien der Schildkrötenpanzer noch 2008 ein gutes Beispiel für eine unerklärte, und damit aus kreationistischer Sicht mutmaßlich unerklärbare, Bauplanänderung zu liefern. Das älteste bekannte Fossil Proganochelys aus dem oberen Trias (deutsch: Keuper) ist ca. 204 bis 206 Millionen Jahre alt und weist bereits einen voll entwickelten Panzer auf. Allerdings gibt es auch ursprüngliche Merkmale, nämlich Gaumenzähne, einen nicht unter den Panzer rückziehbaren Hals, der durch Knochendornen geschützt wird, und eine "Schwanzkeule". Dass wenig später zwei fossile Arten (Odontochelys und Chinlechelys) mit unvollständiger Panzerung gefunden werden würden (s. unten), konnte niemand wissen.
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Es ist nicht ohne weiteres ersichtlich, was dieses Beispiel gegen Evo-Devo beweisen soll. Dass der Schildkrötenpanzer eine evolutionäre Innovation darstellt, bestreitet niemand. Die zitierten Autoren nehmen jedoch an, der Evolutionsprozess, der zu dieser Innovation führte, lasse sich im Rahmen der evolutionären Entwicklungsbiologie erklären. Und sie gehen gerade nicht von einer "sprunghaften Entstehung" des gesamten Merkmalskomplexes im Sinn des früheren Saltationismus (Otto Schindewolf) oder von einer Makromutation im Sinne von Richard Goldschmidt aus. Diese Vorstellungen sind überholt, unter anderem durch Evo-Devo, und spielen in der Evolutionstheorie praktisch keine Rolle mehr, auch wenn sie häufig noch in populärwissenschaftlichen Publikationen kursieren (vgl. Carroll 2008, 52f.).
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Vermutlich steht hinter Junkers Argumentation die für "Intelligent Design" typische Vermutung, dass nur der "fertige" Schildkrötenbauplan einen Selektionsvorteil gehabt hätte, so dass Zwischenschritte auf diesem Weg dorthin nicht evolutionär fixiert worden wären. Aber diskutiert wird dieser Punkt nicht - und er ist auch nicht plausibel, wie unten noch zu zeigen sein wird. Denn Ende 2008 bewirkte die Entdeckung einer Schildkröte in China, die älter war als Proganochelys, eine kleine paläontologische Sensation. Das Fossil ist rund 220 Millionen Jahre alt und wurde Odontochelys semitestaceae genannt, vom Namen her also eine aquatische "Halbschildkröte" mit bezahntem Kiefer (Li et al. 2008). Dieses Fossil weist ein entwickeltes Brustschild (Plastron) auf, aber noch keinen Rückenschild (Carapax). Die oberen Rippenbögen sind schon verbreitert, bilden aber noch keinen vollständigen Schutz. Wenn man dieses Fossil als Ausgangspunkt für die Evolution des Panzers betrachtet, hätte sich zuerst der Bauchpanzer gebildet, und in einem späteren Schritt der Rückenpanzer. Dass ein einzelnes Fossil keine Entwicklungsreihe belegen kann, ist selbstverständlich, aber immerhin war mit diesem Fund ein mögliches, und sogar plausibles, Modell für einen Zwischenschritt zur Evolution des kompletten Panzers fossil ersichtlich. Daher versuchte Wort und Wissen die Bedeutung des Funds zu entkräften (Junker 2008b).
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Auch wenn die Evolution des Schildkrötenpanzers noch lange nicht völlig geklärt ist: Dass es sich um einen unerklärten Fall von Makroevolution handelt, kann niemand mehr ernsthaft behaupten.

Die verborgene Agenda

Die Art, wie Junker die Evolution des Schildkrötenpanzers behandelt, entspricht dem Stil von Wort und Wissen, den er maßgeblich mit geprägt hat. Das Daten- und Zitatenmaterial ist reichhaltig, dient aber anders als in naturwissenschaftlichen Publikationen nicht dem Ziel, den Stand der Forschung korrekt und komplett darzulegen, sowie die eigene Theorie zu entwickeln und zu begründen. Man kann aus den zitierten Texten nichts darüber entnehmen, wie sich Junker die Evolution der Schildkröten vorstellt. Selbst der Grundsatzartikel von 45 Seiten gibt nur ganz wenige Hinweise auf seine eigene Position. Die Kritik von Wort und Wissen an der Naturwissenschaft ist ausschließlich destruktiv, und dafür werden die Zitate benutzt - wenn es sein muss, auch uminterpretiert. Deshalb werden im Fall der Schildkröten Zitate gewählt, die mit Begriffen wie "sprunghaft" und "Makroevolution" operieren, und andere werden ignoriert. Deshalb werden neue Fossilfunde für bedeutungslos oder sogar zum Problem erklärt; ein evolutionstheoretischer Fortschritt wird von ihnen nicht abgeleitet. Nie schlägt Junker (und Wort und Wissen im Allgemeinen) eine Verbesserung der bisherigen Hypothesen vor. Wie sollte es anders sein, da Wort und Wissen von vornherein davon überzeugt ist, dass zwischen Schildkröten und anderen Reptilien ein Bauplanunterschied vorliegt, der nie durch Evolution überbrückt wurde oder überbrückt werden konnte. Es gibt kein Forschungsinteresse an der Evolution der Schildkröten und an irgendeiner anderen evolutionsbiologischen Frage, sondern nur ein Abwehrinteresse. Das Grundtypen-Modell von Wort und Wissen besagt, dass die Schildkröten mit ihren heutigen 13 Familien vermutlich als rund 13 Grundtypen vor etwa 10.000 Jahren speziell erschaffen wurden. Zu den heutigen Arten entfaltet haben sie sich seither nur innerhalb dieser Grundtypen. Aber dieses Modell wird nicht wissenschaftlich kritisch diskutiert, und schon gar nicht mit den evolutionsbiologischen verglichen. Es liefert eine verborgene Agenda, die nicht offen gelegt wird. Es wäre zu offensichtlich ungenügend, wie sollte es zum Beispiel mit den paläontologischen Daten umgehen?

Dass Junker gegen die Evolutionstheorie argumentiert, um eine eigene Agenda zu begründen, die man als Leser nicht ohne weiteres erfährt, hat eine paradoxe Wirkung und lenkt die Kommunikation in eine bestimmte Richtung. Zum einen immunisiert sich Wort und Wissen dadurch gegen naturwissenschaftliche Einwände. Man nimmt die Rolle der Kritiker ein, stellt sich selbst aber nicht der Kritik, auch wenn vereinzelt die Probleme der eigenen, kreationistischen Sicht eingeräumt werden.

Weiterhin manövriert man sich dadurch in die Rolle des Opfers unsachlicher Angriffe. Wer destruktiv kritisiert, ohne seine eigene Position offen zu legen und diese nötigenfalls zu revidieren, weckt Ressentiments und provoziert Gesprächsverweigerung. Genau das erlebt Wort und Wissen von Seiten der Wissenschaft und kann die Kritiker dadurch als angebliche Ideologen ins Unrecht setzen. Letztere geben irgendwann die fruchtlose Debatte auf, und bestätigen damit erneut dieses Feindbild.

Allerdings muss eingeräumt werden, dass das Feindbild der ideologisch verbohrten und ungläubigen Naturwissenschaftler bei Wort und Wissen vergleichsweise noch harmlos ausfällt. Die von der Studiengemeinschaft gepflegte Kommunikationskultur des permanenten Bemängelns ist der fundamentalistischen Intoleranz und der totalen Ignoranz anderer Kreationisten durchaus vorzuziehen. Für Wort und Wissen schreiben und sprechen in der Regel keine Fanatiker, und die menschliche Abwertung von Andersdenkenden hält sich vergleichsweise in Grenzen. Immerhin setzt die "Kultur des Bemängelns" auch einige Sachkenntnis voraus, und ein Schwarz-Weiß-Denken ist für sie nicht nötig, sondern nur die Fähigkeit, mit kognitiven Diskrepanzen zu leben. Immunisierungsstrategien sind viel besser als Fanatismus, zumindest für die Außenstehenden. Das ist positiv anzumerken. Aber zur Freiheit der Forschung, die unverzichtbare Grundlage der Naturwissenschaft ist, und zur Revision der kreationistischen Sichtweise, führt auch von der Kultur des Bemängelns bei Wort und Wissen kein Weg: Das Denken, die Ergebnisoffenheit und die freie Suche nach Wahrheit wird durch die Anerkennung von Dogmen und Autoritäten massiv beeinträchtigt. Da sich die freie Suche nach Wahrheit historisch von der "Freiheit eines Christenmenschen" ableitet, die zum Beispiel Galileo Galilei gegen das dogmatisch festgefügte Naturbild seiner Kirche in Anspruch nahm, kann man Kreationisten nur wünschen, dass sie zu der Freiheit (zurück) finden, wie Galilei im "Buch der Natur" zu lesen, ohne Angst um ihren Glauben zu haben.

(gesamten Artikel von H. Hemminger lesen: www.evolutionsbiologen.de/HH_Schildkroeten.html )

Die Abbildung zeigt Proganochelys, eine der ältesten Schildkröten der Welt, aus der Oberen Trias von Trossingen, Baden-Württemberg.
(Foto R. Harting © Staatliches Museum für Naturkunde Stuttgart. Aus: Schmidt, U. & Bechly, G. (eds) (2009): Evolution. Der Fluss des Lebens.- Stuttgarter Beiträge zur Naturkunde, Serie C, Band 66/67)

eingestellt von R. Leinfelder für die DNFS.