Julia Voss' Einstiegsbuch zu Darwin gehört sicherlich zu den beachtlichsten Neuerscheinungen im Darwin-Jahr, nachfolgend finden Sie Ausschnitte aus einer sehr informativen Rezension in der "Berliner Literaturkritik" vom 21.4.09
Typisch Darwin: Kampf ums Erbe Julia Voss’ Einführung in Charles Darwins Evolutionstheorie © Die Berliner Literaturkritik, 21.04.09 (von Mirco Drewes)
Charles Darwin hat mit seinem 1859 veröffentlichten Werk „Origin of Species“, in Deutschland unter dem Titel „Die Entstehung der Arten“ erschienen, Wissenschaftsgeschichte geschrieben. Seine Evolutionstheorie veränderte den Blick auf die Entstehung und die kosmologisch verbürgte Ordnung von Flora und Fauna grundlegend. Unter den Erkenntnissen und Schlussfolgerungen des studierten Theologen Darwin wandelte sich die Schöpfungsgeschichte zu einem chaotischen und wechselvollen Szenario, in welchem Anpassung an sich ändernde Lebensbedingungen über das Überleben oder Aussterben von Organismen entscheidet und in welchem Wandel und fließende Übergänge unter den Arten das einzig Konstante scheint.
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Gerade in Zeiten kollektiver Existenzängste wird „Darwinismus“ zur Metapher für den Überlebenskampf unterschiedlicher Gesellschaftsschichten oder Kulturformationen gegeneinander stilisiert; im Wesentlichen sind die Argumentationsmuster auf denselben Reflex zurückzuführen, wie im Fall der sozialpolitischen Debatten des biologistischen Rassismus. Die Evolutionstheorie von Charles Darwin wird mal zynisch-agitatorisch, mal kritisch-konservativ für oder gegen allerhand Diskurse mobilisiert. Es bleibt die Frage, inwiefern die hergebrachten Denkmuster über den „Darwinismus“ ernst zu nehmende Schlussfolgerungen der darwinschen Evolutionstheorie darstellen oder es sich um das ungenaue Aufgreifen von Schlagworten und das Fortschreiben einer schwierigen Rezeptionsgeschichte handelt. Mit anderen Worten: Wie viel Darwin ist tatsächlich im „Darwinismus“?
Diesen Fragen hat sich FAZ-Redakteurin Julia Voss angenommen, die der Reihe „… zur Einführung“ des Hamburger Junius-Verlages den Band zu Charles Darwin hinzugefügt hat. Um einen Einblick in die Evolutionstheorie geben zu können, ist es erforderlich, Darwins Theorie im Wissenschaftsdiskurs seiner Zeit zu verorten. Julia Voss beschreibt hierzu detailliert und pointiert die Rezeptions- und Entstehungsgeschichte der Veröffentlichungen Charles Darwins und umreißt dabei präzise den zeitgenössischen Stand der Naturforschung. Ziel der Auseinandersetzung ist es, zu einer kulturwissenschaftlich fruchtbaren Einordnung des Werkes Charles Darwins zu gelangen. Daher werden die biografischen Elemente dieser Einführung stets auf das handlungsleitende Interesse bezogen. Nebenbei entwirft Julia Voss ein eindrückliches Panorama der Forschungslandschaft und -methoden im England des 19. Jahrhunderts, spannend und aufschlussreich zu lesen wie eine gut geschriebene Reportage.
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Darwins Theorie wurde in der Öffentlichkeit diskutiert, journalistisch besprochen und vielfach satirisch aufbereitet. Julia Voss räumt in ihrer Darstellung der Rezeptionsgeschichte mit dem Mythos des Wissenschaftsskandals durch das Formulieren der Evolutionstheorie gründlich auf. Zwar spalteten Darwins Erkenntnisse die Öffentlichkeit in Befürworter und Gegner, aber von einem Aufschrei seitens der Kirche oder breiter Bevölkerungsschichten kann keine Rede sein. Naturforschung und die Ergründung des Ursprungs des Lebens stießen auf großes Interesse und so wurden auch Darwins Theorien abwägend diskutiert und häufig humoristisch verhohnepipelt, wobei sich deren Schöpfer als äußerst beflissener Brief-korrespondent mit Wissenschaftskollegen, Zeitungen und sogar Hobbyforschern beteiligte und teilweise großen Humor bewies.
Zwar sprach Sigmund Freud von der Evolutionstheorie als „großer narzisstischer Kränkung in der Menschheitsgeschichte“, neben derjenigen durch die astronomische Revolution des Kopernikus und durch seine eigene Psychoanalyse und das daraus resultierende Menschenbild. Darwin wurde aber in alle wichtigen wissenschaftlichen Gesellschaften berufen und mit Ehrungen überhäuft, so dass Freuds Einschätzung, zumindest im Hinblick auf die realen Reaktionen des öffentlichen Lebens, als nachträgliche Mythenbildung anzusehen ist. Darüber hinaus fiel die Evolutionstheorie nicht vom Himmel bzw. Darwin genialisch in den Schoß. In „Origin of Species“ setzte sich Darwin selbst mit den Vorläufern seiner Theorie auseinander, zum einen aus wissenschaftlicher Redlichkeit, zum anderen reihte er sich bereitwillig in Forschungstraditionen ein, da ihm der Gestus des Revolutionärs selbst nicht besonders behagte.
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Zu den Vorwürfen, Darwin sei Atheist, Rassist oder vertrete eine kalte, erbarmungslose Weltsicht, in welcher, im Sinne Hobbes’, ein Krieg aller gegen alle ums Überleben stattfinde, nimmt Julia Voss am Ende ihrer Einführung kritisch Stellung. Darwins Evolutionstheorie muss zur Beantwortung dieser Fragen auf ihren historischen Kontext bezogen werden. Charakteristisch für die Verklammerung von Theologie und Naturforschung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Betrachtung der Tier- und Pflanzenwelt war das „argument from design“, welches 1802 in William Paley einen einflussreichen Vertreter gefunden hatte, dessen „Natürliche Theologie“ auch auf Deutsch und Französisch erschienen war. Dieser Position zufolge, die sich sicher in einer Traditionslinie bis Descartes zurückverfolgen ließe, sei die unverkennbare und Maschinen ähnliche Zweckmäßigkeit der tierischen und pflanzlichen Organe auf ein intelligentes Schöpfungsdesign zurückzuführen, für welches letztlich Gott verantwortlich zeichne.
Demgegenüber war Darwins Anpassungslehre und sein Fokus auf das Ungeordnete und auch Unzureichende des Evolutionsprozesses, seine Theorie des gemeinsamen Ursprungs aller Arten natürlich „profan“, in einem Sinne freilich, der zur Etablierung des naturwissenschaftlichen Denkens und zur institutionalisierten Eigenständigkeit der Biologie als Wissenschaft beitrug. Darwin selbst kamen durch seine Studien Zweifel an einem Schöpfergott, allerdings blieb er mit der Religion Zeit seines Lebens in privatem Einklang und hielt sie für das Leben des Menschen und seine Sittlichkeit wohl für unerlässlich. Julia Voss präsentiert dazu sensibel interpretiert die Briefe der Ehefrau Darwins, Emma Darwin, geborene Wedgwood. Diese sorgte sich ob der gedanklichen Veränderungen und der zunehmenden Skepsis ihres Mannes hinsichtlich der Existenz Gottes und schrieb ihrem Mann dazu zwei Briefe, die er mit großer Dankbarkeit aufnahm und die die Eheleute einander noch näher brachten. Ein aufschlussreicher Blick hinter die Kulissen, der die aus der Rezeptionsgeschichte entstandenen Vorstellungen eines naturwissenschaftlichen Angriffs auf die Religion hanebüchen erscheinen lässt. Darwin hielt es mit der Religion im Sinne eines lebenspraktischen Kantianismus.
Als Rassist in seiner Forschung kann Darwin ebenfalls nicht bezeichnet werden. Er lehnte die Einteilung des Menschen nach rassischen Kriterien ab und glaubte nicht an eine evolutionäre Hierarchie der menschlichen Ethnien. Während beispielsweise in Deutschland Ernst Haeckel Studien über die evolutionäre Nachbarschaft zwischen Afrikanern und Gorillas veröffentlichte, verglich Darwin in „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“ lieber wohlhabende Engländer und deren Haustiere im Hinblick auf die Ähnlichkeit der gezeigten Emotionen. Vor arroganten kultur-imperialistischen Äußerungen gegenüber der Ur-Bevölkerung Feuerlands schreckte er jedoch – absolut typisch für seine Zeit – nicht zurück.
Zu guter Letzt ist die landläufige Vorstellung des „Darwinismus“ als Ideologie des Überlebenskampfes der Individuen gegeneinander zu korrigieren. Voss belegt überzeugend die Grundlegung dieser Fehlinterpretation der Evolutionstheorie gerade in Deutschland durch die sehr unglücklichen und nicht autorisierten (Autoren- und Urheberrechte waren im 19. Jahrhundert noch kein justiziables Thema) Übersetzungen von „Origin of Species“. Im Kern besagt Darwins Theorie nichts weiter, als dass die bestangepassten Organismen überleben, wozu auch kollektive Strategien von Solidarität und Fürsorge beitragen können. Die von Darwin verwendeten Begriffe im Themenbereich der Selektion wie „struggle“ oder „survival of the fittest“ wurden durch die deutschen Übersetzer mit „Kampf“ oder „Überleben des Stärkeren“ unglücklich oder mutwillig falsch wiedergegeben.
Als problematisch für die Darwin-Interpretation hat sich zudem dessen Übernahme der Sozialphilosophie von Thomas Malthus erwiesen, der ein stärkeres Wachstum der Bevölkerung als der Nahrungsmittelressourcen prognostizierte und daher die Idee eines Kampfes um Lebensgrundlagen auf den Menschen übertrug. Zwar adaptierte Darwin dieses Modell in Hinsicht auf die Notwendigkeit, kulturelle Überlebenstechniken entwickeln zu müssen, die Korrumpierbarkeit dieser Vorstellung liegt auf der Hand. Wie sich gezeigt hat, war die Prognose Malthus’ zudem falsch, die gegenwärtige Welt hat vielmehr das Problem ungleicher Verteilung. Heutigen biologistisch argumentierenden Rassisten oder den Allmachtsfantasien der Gen-Designer gegenüber hätte Darwin wohl auf die natürliche Variation und den Faktor Zufall als Prinzipien der Evolution verwiesen, die nicht als „gut“ oder „schlecht“ planbar ist.
Julia Voss ist eine sehr informative und spannend zu lesende Einführung in Leben und Werk Darwins gelungen. Den kritischen Horizont der Evolutionstheorie leuchtet sie überzeugend und plausibel aus, zudem weiß ihre Darstellung durch eine sinnvolle Gliederung zu gefallen, die Biografisches, die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der Evolutionstheorie berücksichtigt und in gebotener Präzision deren theoretischen Kern diskursiv offenlegt. Als Einstieg in ein Studium des berühmten Naturforschers kann „Charles Darwin zur Einführung“ nur empfohlen werden, aber auch als unterhaltsames Stück Wissenschaftsgeschichte ist sie sehr lesbar, gerade aufgrund der kulturkritischen Perspektive auf das umstrittene Erbe Darwins.
Von Mirco Drewes
Literaturangaben:
VOSS, JULIA: Charles Darwin zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2008. 217 S., 13,90 €.
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