Freitag, 27. November 2009

Charles Darwin und das Insekt des Jahres 2010

von Reinhold Leinfelder

So unbekannt vielen vielleicht das Insekt des Jahres 2010 ist, für Charles Darwin war es bereits ein faszinierendes "Geschöpf". Aber der Reihe nach:

Gestern wurde im Museum für Naturkunde Berlin der Ameisenlöwe zum Insekt des Jahres 2010 gekürt. Die Wahl zum Insekt des Jahres ist eine Kooperation zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Schirmherrschaft hat Dr. Johannes Hahn, Österreichischer Bundesminister für Wissenschaft und Forschung (Wien) übernommen. Das Insekt des Jahres wurde das zwölfte Mal proklamiert und soll auf diese besondere Tiergruppe hinweisen, die in der Bevölkerung häufig nur als lästig, z.B. Wanzen und Mücken, und nur in wenigen Fällen als schön empfunden wird, nämlich Schmetterlinge. Insekten sind die größte Tiergruppe überhaupt. Schätzungen gehen davon aus, dass über 80 % aller Tiere Insekten sind.

Aus der Pressemeldung vom 27.11.09:

Versteckter Räuber: Ameisenlöwe Insekt des Jahres

Berlin (dpa) - Ein winziger Räuber kommt ganz groß heraus: Der Ameisenlöwe ist das Insekt des Jahres 2010. Menschen bekommen den nur etwa 17 Millimeter kleinen Jäger kaum je zu Gesicht. Und wenn die Beute, meist Ameisen und andere kleine Tiere, dem Insekt zu nahe kommt, ist es schon zu spät.

Dann schnappt der Ameisenlöwe in dem Sandtrichter, den er sich geschaufelt hat und in dem er sich versteckt, mit seinen Zangen unerbittlich zu. Gleichzeitig injiziert er ein lähmendes Gift in sein Opfer. Trotz dieser raffinierten und erfolgreichen Fangmethode ist der Ameisenlöwe europaweit stark in seinem Bestand gefährdet, wie das Kuratorium «Insekt des Jahres» am Freitag in Berlin mitteilte.

Die tückische Stärke des Insekts ist es, dass es sich binnen Sekunden rückwärts in Sand eingraben kann. Dort wartet das Tier darauf, dass seine Nahrung in den meist steil angelegten Sandtrichter fällt, aus dem es dann kein Entkommen mehr gibt. Die Neigung ist so steil, dass ein Fluchtversuch oft nur damit endet, dass die Beute noch tiefer hineinrutscht in den Schlund. (> weiterlesen)

Charles Darwin und der Ameisenlöwe:

Weniger bekannt ist, dass Charles Darwin ebenfalls vom Ameisenlöwen fasziniert war. Insbesondere, als er im Januar 1836 in Australien das ihm von England gut bekannte Insekt fand, gleichzeitig aber auch ihm sehr fremdartig erscheinende Tiere, wie das Schnabeltier beobachtete, ging er - damals noch ziemlich vom physikotheologischen Schöpfungsglauben geprägt - von einer Schöpfung Gottes aus und diskutierte sogar eine doppelte Schöpfung. So schrieb er in seinem Tagebuch für den 19. Januar 1836:

"...I had been lying on a sunny bank & was reflecting on the strange character of the animals of this country compared to the rest of the World. An unbeliever in everything beyond his own reason might exclaim, "Surely two distinct Creators must have been at work; their object is the same & certainly the end in each case is complete". Whilst thus thinking, I observed the conical pitfall of a Lion-Ant:- a fly fell in & immediately disappeared; then came a large but unwary Ant. His struggles to escape being very violent, the little jets of sand described by Kirby (Vol. I. p. 425) were promptly directed against him.- His fate however, was better than that of the fly's. Without doubt the predaecious Larva belongs to the same genus but to a different species from the [European] kind.- Now what would the Disbeliever say to this? Would any two workmen ever hit on so beautiful, so simple, & yet so artificial a contrivance? It cannot be thought so. The one hand has surely worked throughout the universe. A Geologist perhaps would suggest that the periods of Creation have been distinct & remote the one from the other; that the Creator rested from his labor." (> Quelle)

In der gedruckten Form erschien dies 1839. In der darauf basierenden deutschen Ausgabe von 1844 (Charles Darwin's naturwissenschaftliche Reisen, übersetzt von Ernst Dieffenbach, Erster Theil, Verlag Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig) heißt dies dann so, man beachte die leicht unterschiedlichen weltanschaulichen Passagen:



Interessanterweise wurde diese Passage in späteren Auflagen in eine Annotation verbannt und auch teilweise geändert. So lautet dieser Text in der 2009 erschienenen Neuübersetzung, welche auf der 1845 erschienenen 2. englischen Auflage basiert (Charles Darwin, die Fahrt der Beagle, mit einer Einleitung von Daniel Kehlmann, Deutsch von Eike Schönfeld, Fischer Taschenbuch Verlag) folgendermaßen (Annotation 5, 19. Kap.):

"Interessanterweise fand ich hier die hohle, konische Fallgrube des Ameisenlöwen oder eines anderen Insekts; erst rutschte eine Fliege den tückischen Hang hinab und verschwand sogleich, dann kam eine große, aber arglose Ameise; da ihr Kampf ums Entrinnen sehr heftig war, wurden jene eigenartigen kleinen Sandstrahlen, die Kirby und Spence beschrieben haben (Entomology, Bd. I, S.425) und die vom Schwanz des Insekts geworfen werden, prompt auf das erwartete Opfer gerichtet. Doch der Ameise wurde ein besseres Schicksal zuteil als der Fliege; sie entkam den tödlichen Fängen, welche am Grund der konischen Höhlung verborgen lagen. Diese australische Fallgrube war nur ungefähr halb so groß wie jene des europäischen Ameisenlöwen."

Hier ließ Darwin also sämtliche weltanschaulich-religiösen Anmerkungen weg und beschränkte sich auf die naturwissenschaftliche Analyse.

Schon 1836 hat also Charles Darwin die Mission des Insekt des Jahres 2010 vorweggenommen und auf dieses interessante Insekt (genauer: Insektenlarve, das erwachsene Insekt heißt Ameisenjungfer) hingewiesen.

Donnerstag, 26. November 2009

Design ohne Designer? Ein Bericht zu einer Podiumsdiskussion

Gastbeitrag von Hansjörg Hemminger:

Podiumsdiskussion „Design ohne Designer?“ am 24. November 2009 im Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart

Bericht: Hansjörg Hemminger

Die Podiumsdiskussion im Stuttgarter Schloss Rosenstein 150 Jahre nach Erscheinen von Darwins Hauptwerk „On the Origin of Species…“ hatte einen passenden Rahmen. Dort befindet sich die Ausstellung „Der Fluss des Lebens“, in der Darwins Werk und die heutige Evolutionstheorie vorgestellt werden [1]. Unter dem an der Decke aufgehängten Modell eines Finnwals versammelten sich neun Diskutanten und mehrere hundert Zuhörerinnen und Zuhörer, für die der Saal schnell zu klein wurde. Professor Martin Blum (Universität Hohenheim) eröffnete die Diskussion mit einem Überblick über die Erfolgsgeschichte der Evolutionstheorie seit Darwin und stellte klar, dass er (anders als die Vertreter eines „intelligenten Designs“ und einige darwinistische Extremisten) diese Geschichte nicht als einen Angriff auf religiöse Überzeugungen wahrnehmen könne. Er zitierte den Christen und ehemaligen Leiter den „Human Genome Projects“ Francis Collins mit dem Wort, dass es keine seriösen biologischen Forscher mehr gebe, die Zweifel an der Evolutionstheorie hätten. Für „intelligentes Design“ (ID) eröffnete Dr. Douglas Axe vom „Biologic Institute“, das Teil des „Discovery Institutes“ in Seattle ist, die Debatte. Er berief sich auf die nach seiner Ansicht bewiesene Tatsache, dass „funktionale Information“ ein Merkmal des Lebens sei, und dass funktionale Information nur von Intelligenz produziert werde. Dieses Argument entwickelte er während der Diskussion weiter, ohne auf Gegenargumente zu antworten oder sie auch nur zu beachten. Dabei stützte er sich auf ein Werk von Stephen C. Meyer, dem Mitgründer des Discovery Institutes: Signature in the Cell - DNA and the Evidence for Intelligent Design (2009). Auch in der folgenden Diskussion war lediglich „intelligent design“ Gegenstand, der Kurzzeit-Kreationismus wurde nicht angesprochen, obwohl mit Dr. Reinhard Junker von „Wort und Wissen“ ein Vertreter auf dem Podium saß. Junker nutzte die Chance, die ihm das Ausbleiben kritischer Fragen nach der Position von „Wort und Wissen“ bot, und äußerte sich vor allem zu Fachthemen, indem er für ein „intelligentes Design“ der Bakterienflagelle argumentierte und die so genannte „kambrische Explosion“ in der Paläontologie als ein Problem für die Evolutionstheorie darstellte. Ausgerechnet er, der eigentlich kein Vertreter des ID ist, ließ als Einziger erkennen, dass er wissenschaftliche Gegenargumente wahrnimmt und sie zu bearbeiten sucht. Auch sein Detailwissen hob sich von den Allgemeinheiten ab, die ansonsten für ID ins Feld geführt wurden, machte seine Beiträge für das Publikum aber schwer verständlich. Der Genetiker Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig wiederholte demgegenüber lediglich die Argumente für ID, die er in großer Breite im Internet anbietet. Da er oberflächlich an die Evolutionstheorie anknüpft, ohne wirklich auf sie einzugehen, wirkte er von allen Vertretern des ID am plausibelsten auf das nur zum Teil fachkundige Publikum. Sein besonderer Stil ist das Aneinanderreihen von scheinbar beweiskräftigen Zitaten. Was in einem langen Internet-Text überzogen oder sogar lächerlich wirkt, nämlich ein „Beweis durch Autorität“, kam in Stuttgart gut an – schon deswegen, weil niemand nachprüfen konnte, was die zitierten Autoritäten (darunter Charles Darwin selbst) gesagt hatten oder hatten sagen wollen. Lönnig dominierte die ID-Seite der Debatte, auch weil Markus Rammerstorfer (Linz) nicht viel beizutragen hatte. Obwohl der Moderator Stefan Zibulla ihm eine unfreiwillige Steilvorlage lieferte, indem er den menschlichen Blinddarm als Beispiel für Dysteleologie (Flickschusterei, unintelligentes Design von Merkmalen) einführte, entwickelte Rammerstorfer kein eigenes Argument. Seine Entgegnung lief darauf hinaus, dass man wie im Fall des Blinddarms (der in der Tat eine Funktion in der Immunabwehr und bei der Erhaltung der Darmflora hat) irgendwann schon einsehen werde, dass das scheinbar Unzweckmäßige an vielen biologischen Merkmalen doch funktional sei. Danach verschwand er aus der Debatte. Die wurde auf wissenschaftlicher Seite von dem Bemühen bestimmt, die Leistungen und die verbliebenen Fragen der Forschung fair darzustellen. Dr. Jürgen Kriwet behandelte das Thema der chemischen Evolution, also den Übergang von abiotischen zu biotischen Strukturen, mit der Schilderung der zahlreichen Modelle, die es dafür inzwischen gibt, aber auch mit einem Hinweis auf die schwache Datenlage, was die tatsächlichen Randbedingungen der chemischen Evolution auf der frühen Erde angeht. Dr. Michael Maisch schilderte die Methodik der Paläontologie am Beispiel der kambrischen Radiation, die Schwierigkeiten ebenso wie die großen Erfolge seit Darwins Zeit. Er betonte, dass Darwins Problem der fehlenden „missing links“ längst keines mehr sei und erwähnte – unter dem Modell des Finnwals sitzend – als Beispiel die nahezu vollständig fossil belegte Evolution der Wale. Danach äußerte sich Professor Martin Blum zu den eindrucksvollen Erfolgen der evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) und griff das Beispiel der Lichtsinnesorgane auf, deren Entwicklung im gesamten Tierreich und darüber hinaus von einer homologen genetischen Regulation abhängt.

Es war typisch für die Diskussion, dass weder die geschilderten Fortschritte der Paläontologie, noch die der kausalen Evolutionstheorie an den Argumenten für ID etwas änderten. Das Kameraauge wird seit Darwin als ein klassisches Beispiel für komplexe Funktionalität in der Biologie und als Argument für „Design“ benutzt. Dass wir heute relativ gut wissen, wie selbst das Linsenauge der Säugetiere durch zunehmend komplexe ontogenetische Prozesse in der Evolution zustande kam, entkräftet die Kritik angeblich nicht. Dann hat der „Designer“, so die Taktik, eben denselben entwicklungsgenetischen Werkzeugkasten immer wieder dafür benutzt, Augen zu konstruieren. Ebenso ändern immer neue, paläontologisch hervorragend belegte Evolutionslinien nichts an dem Argument, ein „Designer“ habe dabei die Hand im Spiel. Dr. Hansjörg Hemminger griff das ID-Standardargument der nichtreduzierbaren Komplexität (zum Beispiel der Bakteriengeißel) auf. Sie besteht aus mehreren Elementen, die alle vorhanden sein müssen, damit die Funktion nicht ausfällt. Dass jedoch die fertige Struktur auf alle funktionalen Elemente angewiesen ist, sagt nichts darüber aus, wie sie zustande kam. Man muss den Prozess kennen, durch den die Geißel entstand, um etwas über dessen Wahrscheinlichkeit sagen zu können. Modelle dafür gibt es bereits [2]. Der Trick der ID-Literatur besteht darin, einen unwahrscheinlichen Prozess so darzustellen, als sei er der einzig mögliche, und ihn dann zu widerlegen. Dr. Axe demonstrierte diesen Trick unfreiwillig, indem er berichtete, dass man in seinem Institut die menschliche Sprache als Modell dafür benutze, „funktionale Information“ im Genom zu messen. Abgesehen davon, dass er eine Definition dieser Art Information schuldig blieb, und für seine quantitativen Aussagen Bits benutzte, die sicherlich nichts Funktionales messen, ist die menschliche Sprache aus vielen Gründen ein denkbar schlechtes Modell für genetische Information. Sie ist weit weniger redundant als das Genom, sie ist viel lage- und kontextspezifischer, und ungerichtete Änderungen sind fast nie bedeutungsneutral. Im Genom höherer Lebewesen ist das jedoch die große Mehrheit. Kein Wunder, dass man mit dieser falschen Analogie zu falschen Ergebnissen kommt. Aber Dr. Axe demonstrierte auch, dass es dem Discovery Institute auf Wissenschaft nicht ankommt. Seine Argumente sind pure Scheinwissenschaft, sie dienen dem medialen und politischen Schaulaufen, sie sind Waffen im Kulturkampf der USA zwischen „Liberals“ und „Conservatives“. Zum Glück, so muss man sagen, wirkten sie deshalb in Schloss Rosenstein belanglos.

Zurück zur Naturwissenschaft: Dr. Mike Thiv nahm aus der Sicht eines Botanikers zur Frage der Dysteleologie Stellung, und zum Schluss äußerte sich nochmals Dr. Hansjörg Hemminger zur Grundsatzfrage des „methodischen Naturalismus“. Dieser beruht auf dreiGrundannahmen über die Natur, nämlich dass es überhaupt eine Realität der Natur außerhalb unseres Bewusstseins gibt (hypothetischer Realismus), dass in ihr regelhafte Beziehungen von Ursache und Wirkung herrschen (kausale Ordnung), und dass diese Ordnung in Raum und Zeit überall gilt, also keine räumlichen und zeitlichen Grenzen hat (Kontinuität). Diese Grundannahmen sind nicht naturwissenschaftlich beweisbar, sie sind die Voraussetzung jedes Beweises und deshalb so etwas wie eine „minimalistische Metaphysik“. Diese ist aber alles andere als willkürlich. Deswegen ist es ein Missgriff, metaphysische Erklärungen für das Wesen der Welt in eine biologische Theorie einbauen zu wollen. Der „intelligente Designer“ von außen ist ein solcher Missgriff. Damit wird die Naturwissenschaft nicht erweitert, sondern verhindert. Sie verliert die methodische und logische Grundlage und damit ihre Konsensfähigkeit. Dem widersprach besonders Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig vehement und bezeichnete es als ideologische Einengung des Denkens, wenn man Intelligenz als Ursache biologischer Phänomene ausschließen wolle. An diesem Punkt zeigte sich die Schwierigkeit besonders deutlich, komplizierte Sachfragen mit streng kontrollierten Minuten-Statements auf einem so großen Podium abzuhandeln. Es war zwar möglich, Lönnig zu entgegnen, dass nicht die Ursache „Intelligenz“ an sich ausgeschlossen werde, sondern die transzendente, supranaturale Intelligenz, und auch nicht aus dem Weltbild, sondern lediglich aus der biologischen Theorienbildung. Aber dieser zentrale Kritikpunkt an ID ließ sich nicht wirklich entfalten, obwohl Professor Martin Blum pointiert darauf hinwies, dass eine immanente Intelligenz als Faktor der kausalen Evolution selbstverständlich berücksichtigt würde, sollten die ID-Vertreter irgendwann eine Hypothese vorbringen, wo und wie man diese Intelligent bzw. ihre Effekte empirisch zu untersuchen habe. Ohne eine solche Hypothese sei die ID-Vorstellung wissenschaftlich leer, und alle Beweise aus Nichtwissen, um die sich ID bemühe, gingen ins Leere. Verständlicherweise behaupteten alle ID-Vertreter, ihr Ansatz sei wissenschaftlich fruchtbar, konnten aber außerhalb ihrer Kritik an evolutionsbiologischen Modellen nicht einmal den Anschein eigener Modelle vorweisen.

Das Fazit der Veranstaltung war für den Berichterstatter zwiespältig: Positiv ist hervorzuheben, dass der Ton sachlich blieb, und persönliche Angriffe vermieden wurden. Nur Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig fiel mit der Behauptung auf, es habe Störungs- und Verhinderungsversuche von Evolutionisten und Atheisten gegeben. Dem widersprach die Direktorin des Museums, Frau Professor Eder: Es habe zwar Kritik an der Veranstaltung im Internet gegeben. Aber dass jemand eine kritische Meinung habe, auch wenn sie sachlich unfundiert sei, sei weder eine Störung noch ein Verhinderungsversuch. Damit war auch dieser Ausrutscher in Richtung Verschwörungsdenken erledigt. Es hätte auch keinen Grund gegeben, den Auftritt der Befürworter eines „intelligenten Designs“ zu verhindern. Die wissenschaftlichen Gegenargumente wurden überzeugend vorgebracht, und für Personen mit Sachkenntnis gab es einige Erkenntnisgewinne. Subjektiv sah es nach einem Punktsieg für die Wissenschaft aus, aber diese Effekte hingen von den Vorannahmen der Zuhörerinnen und Zuhörer ab. Der Mut der Veranstalter ist jedoch an sich sehr anerkennenswert. Immerhin kann man nun nicht sagen, die Kritiker hätten im Darwin-Jahr gar keine Gelegenheit bekommen, sich öffentlich zu äußern. Auf der anderen Seite ließ sich die Attraktivität der Pseudowissenschaft „intelligent design“ in einem solchen Rahmen kaum diskutieren, und wohl gar nicht abbauen. Sie beruht nicht auf wissenschaftlichen, eigentlich auch nicht auf philosophischen oder theologischen, Argumenten, sondern auf dem Wunsch nach einem geschlossenen Weltbild, das Sicherheit vermittelt. Und dieser Wunsch ist naturwissenschaftlich in der Form einer Debatte kaum reflektierbar.
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[1] Ausstellungsband s. Ulrich Schmid, Günter Bechly (Hg.): Evolution – Der Fluss des Lebens, Staatliches Museum für Naturkunde; Stuttgart 2009 [2] S. dazu Johannes Sikorski: Die bakterielle Flagelle – Stand der Forschung zu molekularem Aufbau, Diversität und Evolution, in: Martin Neukamm (Hg.): Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus, Göttingen 2009 262-301

[2] S. dazu Johannes Sikorski: Die bakterielle Flagelle – Stand der Forschung zu molekularem Aufbau, Diversität und Evolution, in: Martin Neukamm (Hg.): Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus, Göttingen 2009 262-301

Abbildung: Wissenschaftliche Erklärung des Flagellenmotors, ein entkräftetes Paradebeispiel der Intelligent-Design-Kreationisten. Modell in der aktuellen Sonderausstellung "Evolution - Der Fluss des Lebens" im Stuttgarter Naturkundemuseum.

Kurzbiografie:
Dr. Hansjörg Hemminger studierte Biologie im Hauptfach und Psychologie im Nebenfach an den Universitäten Tübingen und Freiburg. Er habilitierte sich an der Universität Freiburg/Br. im Fach „Verhaltensbiologie des Menschen“. In den Jahren 1984 bis 1996 war er wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Stuttgart, einem Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland. Seit März 1997 ist er Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Außerdem war Hansjörg Hemminger Mitglied der Enquète-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des 13. Deutschen Bundestags. Er publizierte zahlreiche Artikel und Bücher zu religionspsychologischen Themen und zu Fragen der Beziehung von Theologie und Naturwissenschaft, darunter „Was ist eine Sekte?“, „Aberglauben“ und „Grundwissen Religionspsychologie“; 2009 erschien „Und Gott schuf Darwins Welt“, eine Auseinandersetzung mit Kreationismus und „intelligentem Design“. Im ebenfalls 2009 erschienenen Buch "Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus" (Hrsg. Martin Neukamm) finden sich zwei weitere Beiträge von Hansjörg Hemminger.

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Die Durchführung einer Podiumsdiskussion zwischen Naturwissenschaftlern und Kreationisten an einem staatlichen Naturkundemuseum wurde von Andreas Müller, Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung sowie Redakteur des sog. Darwin-Jahr-Komitees unter dem Titel "Kreationisten im Naturkundemuseum" kritisiert. Eine Reaktion des dort kritisierten Reinhold Leinfelder findet sich in diesem Blog unter dem Titel "Das Darwin-Jahr-Komitée jagt Naturkundemuseen?"
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Dienstag, 17. November 2009

Evolution und Klima - Skeptiker überall

von Reinhold Leinfelder (mit Nachtrag vom 19.11.09 am Ende der Seite)

Ach du lieber Darwin, was hat denn das Darwin-Jahr mit Klimapolitik zu tun, muss dies denn auch noch auf dem Blog erscheinen?!

Nun denn, wir sind ja dabei, die Themen rund ums Darwin-Jahr aufzuweiten, denn auch Charles Darwin dachte weit über den Tellerrand hinaus - der kürzlich in AdlD vorgestellte Artikel zu Darwin und die Sklaven ist ein gutes Beispiel dafür. Aber tatsächlich gibt es jede Menge Bezüge zwischen Darwin bzw. der Evolutionstheorie und der Klimaforschung:

Darwin und das Klima

Darwins Atolltheorie hatte Klimaauswirkungen wie steigenden Meeresspiegel schon vorweg genommen (>Klimawandel: was wir von Darwin lernen können , von R. Leinfelder, 12.2.2007)

Und den Staub der Beagle, den Darwin ans Berliner Museum für Naturkunde schickte, weil er sich über dessen Herkunft wunderte, ist gewissermaßen eine repräsentative Probe der ozeanischen Atmosphäre zum Zeitpunkt der massiven Industrialisierung. (> Klimaforscher Darwin, Die WELT 2008, sowie > Mehr als 150 Jahre und noch immer quicklebendig, Tagesspiegel vom 14.11.2009)

Vor allem aber wusste Darwin bereits, welche Rolle das Klima als Selektionsfaktor spielt. So schrieb er etwa in Kap. III (Struggle for existence) seines "On the origins of species" u.a. folgendes:

"Climate plays an important part in determining the average numbers of a species, and periodical seasons of extreme cold or drought, I believe to be the most effective of all checks. ... The action of climate seems at first sight to be quite independent of the struggle for existence; but in so far as climate chiefly acts in reducing food, it brings on the most severe struggle between the individuals, whether of the same or of distinct species, which subsist on the same kind of food. ....
When we travel from south to north, or from a damp region to a dry, we invariably see some species gradually getting rarer and rarer, and finally disappearing; and the change of climate being conspicuous, we are tempted to attribute the whole effect to its direct action. But this is a very false view: we forget that each species, even where it most abounds, is constantly suffering enormous destruction at some period of its life, from enemies or from competitors for the same place and food; and if these enemies or competitors be in the least degree favoured by any slight change of climate, they will increase in numbers, and, as each area is already fully stocked with inhabitants, the other species will decrease.....
That climate acts in main part indirectly by favouring other species, we may clearly see in the prodigious number of plants in our gardens which can perfectly well endure our climate, but which never become naturalised, for they cannot compete with our native plants, nor resist destruction by our native animals."

Dies sind nur einige wenige Beispiele, die zeigen, wie schon Charles Darwin die direkten und indirekten Selektionswirkungen des Klimas erkannte. Umso verwunderlicher, dass heute die Auswirkungen von Klimaveränderungen häufig wieder stark relativiert werden, vor allem wenn es um die Frage geht, ob der anthropogene Anteil wirklich so groß und bedrohlich sei bzw. ob dies denn wirklich auch alles durch die Forschung belegt sei.

Kreationisten und Klimaskeptiker

Dies bringt uns zu einer weiteren Parallele zwischen Evolutions- und Klimaforschung. Auch die Evolutionstheorie wird ja kräftig angezweifelt, angeblich sei das ja alles nicht wissenschaftlich haltbar. Darauf müssen wir hier wirklich nicht eingehen, das haben wir an anderer Stelle schon häufig getan - das Darwin-Jahr ist ja voll vom Thema Kreationismus und sog. Intelligent-Design. Aber in der Klimaforschung ist es nicht viel anders, auch hier tummeln sich grundsätzliche Zweifler sowie diejenigen, die meinen, man wüsste noch viel zu wenig und die Wissenslücken seien derart groß, dass Handlungsempfehlungen, etwa die Absicht, das Klima möglichst nicht über 2 Grad-Erhöhung hinauslaufen zu lassen, nicht haltbar seien. Diese "2-Grad-Gläubigen" seien alle ideologisch verblendet, wollten eine Weltregierung einführen, seien Ökofaschisten oder was auch sonst noch. Tatsächlich drehen die Klimaskeptiker aber den Spieß gerne rum, nicht sie sind es, die man mit Kreationisten vergleichen könnte, sondern umgekehrt, die "2-Grad-Gläubigen" seien die Dogmatiker, die ähnlich den Kreationisten Ideologien und damit verknüpfte politische Agenden fahren würden und dabei völlig unwissenschaftlich seien.
Dieses Fass wollen wir in "Ach du lieber Darwin" derzeit nicht weiter aufmachen, statt dessen finden Sie am Ende dieses Artikels ein paar links zu Artikeln, welche Kreationisten und Klimaskeptiker vergleichen.

Ähnlich wie bei den Evolutionsleugnern gibt es auch etliche Naturwissenschaftler unter den Klimaskeptikern, darunter sogar Geowissenschaftler, die ja Klimaveränderungen sowie ihre direkten und indirekten Auswirkungen auf die Umwelt und die Lebewelt aus der Erdgeschichte eigentlich gut kennen müssten.


Klimaforschungsrelativisten

Neu ist eine weitere Gruppe, die manche vielleicht sogar mit Intelligent Design-Anhängern vergleichen würden. Einige Geowissenschaftler lassen zwar gelten, dass das anthropogene CO2 zur Klimaveränderung beiträgt, aber wie genau, das würde man eben nicht wissen, Modelle, die das berechnen würden, seien nicht gut genug, es gäbe noch ganz andere Faktoren, das ganze sei viel zu komplex (erinnert dies nicht wirklich an die "irreducable complexity" der IDler?), um etwa wissenschaftlich begründet das 2-Grad-Ziel formulieren zu können, und da müsse man erst noch kräftig forschen. Zugegeben, diese Analogie mit Intelligent Design mag überspitzt erscheinen. Natürlich haben fundamentale Sechstage-Kreationisten mit fundamentalen Klimaskeptikern bzw. Intelligent-Design-Anhänger mit Klimaforschungsrelativisten nun keine gemeinsamen weltanschaulich-religiösen Agenden. Auch fordern Klimaforschungsrelativisten ja im Unterschied zu IDler mehr Forschung (und mehr Forschungsgelder). Aber richtig ist, dass Kreationisten und IDler den Evolutionswissenschaftlern doch gerne mal vorwerfen, dass die "Darwinisten" keine Wissenschaft, sondern Ideologie betreiben würden, und das passiert analog tatsächlich auch beim Klimathema. "Echte" Klimaskeptiker behaupten, die Klimaforscher betrieben Ideologie, denn sie wollten unter dem Deckmantel des globalen Klimaschutzes eine kommunistische Weltherrschaft etablieren oder träten für einen Ökofaschischmus ein. Und selbst die Klimaforschungsrelativisten behaupten immerhin schon mal gerne, dass die "2-Grad"-Klimaforscher eigene politische Agenden betreiben würden. Den Vorwurf könnte man allerdings ohne weiteres auch umdrehen. Und wenn gesagt wird, dass das Klima eh macht was es will, erinnert mich das ein bisschen an den Fatalismus fundamentalreligiöser. Allerdings nicht ganz, denn man kann natürlich etwas tun - sich anpassen an den Klimawandel durch neue großtechnologische Entwicklungen (ein mögliches Beispiel zeigen wir in der Abbildung :-)

Es geht mir wirklich nicht darum, zu polemisieren, aber ich denke es ist schon wichtig klarzustellen, dass hinter der dringenden Empfehlung nach der "2-Grad-Limitierung" des globalen Klimaanstiegs keine ideologischen Spinner stehen, sondern die ganz überwiegende Mehrheit der Klimaforscher. So flossen z.B. in den 4. Zustandsbericht des IPCC von 2007 über 2500 Expertenreviews ein, der Bericht ist geschrieben von über 450 Hauptautoren und über 800 "beitragenden" Autoren. Wissenschaftler aus 130 Ländern hatten 6 Jahre an diesem 4.IPCC-Bericht gearbeitet. Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass nicht die Mehrheit der Geowissenschaftler zu den Klimaforschungsrelativisten zählt. Der eine oder andere Geowissenschaftler mag allerdings vielleicht deshalb Schwierigkeiten mit der Relevanz der 2-Grad-Leitplanke haben, weil diese auf unser in geowissenschaftlichen Maßstäben extrem kurzes Hochkulturzeitfenster bezogen ist. Geowissenschaftler sind es gewohnt, in geologischen Skalen zu denken.

Natürlich wissen wir immer noch viel zu wenig über das Klimageschehen sowie über die Auswirkungen auf die Umwelt und das Leben. Aber wir wissen mehr als genug, um sagen zu können, dass das Weltklima mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Ruder laufen wird, was katastrophale Folgen für die menschliche Gesellschaft hätte, wenn nicht umgehend umfassende Reduktionsmaßnahmen für CO2 auf globaler Ebene vereinbart werden. Deshalb ist das Thema Klimagipfel im Kopenhagen durchaus auch ein Thema im Darwin-Jahr. Der globale Selektionsversuch, den sich die Menschheit durch ihren Eingriff in das Weltklima und die Umwelt selbst auferlegt hat, darf nicht außer Kontrolle geraten.


Aktuell: Wissenschaft oder 2 Grad-Celsius-Limit?

Und dass wir gerade jetzt dieses Thema eröffnen, hat natürlich auch einen aktuellen Anlass, denn vor kurzem fand eine geowissenschaftliche Konferenz in Berlin statt, welche ursprünglich im Internet unter dem Titel „Was wissen wir vom Klima – Wissenschaft oder 2-Grad-Celsius-Limit“ angekündigt wurde. Der ursprüngliche Konferenztitel wurde später vorsichtshalber zu „Klima im System Erde – Antworten und Fragen aus den Geowissenschaften“ umbenannt. Falls Sie dieses Thema interessiert, lesen Sie doch einfach weiter und stöbern in den verlinkten Artikeln:

FAZ-Artikel vom 29.10.2009: Klimawandel und Erdpolitik. Ein Limit von zwei Grad Erwärmung ist praktisch Unsinn. "Drei große deutsche Geoinstitute stellen sich quer zur internationalen Klimapolitik. Statt nur über Temperaturen und Emissionen sollte über ein Erdsystemmanagement verhandelt werden, sagen die Direktoren Karin Lochte, Reinhard Hüttl und Volker Mosbrugger. In Kürze soll das Thema auf der gemeinsamen Konferenz „Klima im System Erde“ besprochen werden. Im Gespräch erläutern sie ihre Motive." > weiterlesen

Der Artikel sowie diese Tagung haben ziemlichen Wirbel verursacht.

Zuerst einmal haben sich die Klimaskeptiker gefreut, hier als Beispiel ein noch eher "moderater" Artikel:

ef-online, vom 30.10.09: Erderwärmung: Es gibt keine Alternative zur Anpassung an den Klimawandel. Geologen halten das Zwei-Grad-Limit für baren Unsinn. > siehe hier

Auch in den nicht von Klimaskeptikern dominierten Medien war der Impakt zur Tagung recht groß und es gab viel Wohlwollendes, etwa hier:

Potsdamer neueste Nachrichten vom 4.11.09: Erhebliche Schwachstellen. Die Potsdamer Geo- und Polarforschung stemmt sich gegen die offizielle Klimapolitik und mahnt eine Kurskorrektur an. > siehe hier

Tagesspiegel vom 4.11.2009: Labiler Planet. Um den Klimawandel zu bewältigen, genügt es nicht, Emissionen zu verringern. > siehe hier

Neue Zürcher Zeitung vom 10.11.09: CO 2 -Emissionen sind nicht alles. Forscher plädieren für vielschichtige Klimadiskussion. > siehe hier


Es gab allerdings auch kräftig und zunehmend Kritik:

Radiobericht in BR 2 (IQ) vom 2.11.09: podcast > siehe hier (kurz nach Mitte des mp3 beginnt der Beitrag von Renate Ell)

Weiterer Beitrag von Renate Ell vom 13.11. in vdi-Nachrichten: "Wechselwirkungen beim Klima nicht genau verstanden" > siehe hier.

Auch andere Geowissenschaftler und Klimaforscher meldeten sich kritisch zu Wort:

Reaktion von Reinhold Leinfelder im Tagesspiegel vom 10.11.2009: Zögerliche Geowissenschaftler bremsen die Klimapolitik – ausgerechnet vor Kopenhagen. > siehe hier
(Tipp, sehen Sie sich auch die Kommentareintragungen von Klimaskeptikern am Ende des Artikels an, sehr lehrreich).

Im heutigen Spiegel online (vom 17.11.2009): Erderwärmung. Klimaforscher protestieren gegen Institutsdirektoren. > siehe hier.
(Nachtrag vom 19.11.09: Hier das Originalstatement, auf welches im Spiegel-Artikel Bezug genommen wird)

Die Klimaskeptiker haben sich natürlich sofort kräftig gemeldet - große Ehre, der Artikel wurde von den Skeptikern sogar auf Englisch übersetzt und von Australien bis USA gemeldet. Ein paar Beispiele:
>Desperate Climate-Tors!
>Jetzt mit offenem Visier?

Von Interesse vielleicht auch in der heutigen Süddeutschen Zeitung (vom 17.11.2009):
Klimagipfel "Die Industrieländer kneifen wieder". "Die Wanne ist voll": Klimaexperten sind empört über das absehbare Scheitern eines weltweiten CO2-Abkommens.
In diesem Artikel positionieren sich acht Wissenschaftler. > siehe hier

Der dort aufgenommene eigene Kurzbeitrag sei nachfolgend wiedergegeben:

"Das bisschen Aufschub ist doch kein Problem, schließlich hat sich das Klima schon immer gewandelt? Schon richtig, Ökosysteme wie Korallenriffe haben sich im Laufe der Erdgeschichte immer wieder erholt, dummerweise aber erst nach Millionen von Jahren. Auch der Mensch hat schon höhere Temperaturschwankungen überdauert, dummerweise aber nur als jagender Nomade. Die moderne Kultur, bestehend aus Landwirtschaft, Arbeitsteilung, Handel und fragiler Infrastruktur hat sich in einem kurzen, klimatisch stabilen Zeitfenster entwickelt. In den vergangenen fünftausend Jahren schwankte das Weltklima nur um wenige Zehntel Grad pro Jahrhundert, im industrialisierten 20. Jahrhundert waren es plötzlich 0,8 Grad. Der heutige CO2-Wert in der Luft ist bereits höher als in den vergangenen Millionen Jahren. Der Mensch wird deshalb nicht als Spezies aussterben, aber das Ausmaß und die unglaubliche Beschleunigung des Wandels bedrohen die Zivilisation. Die atmosphärische CO2-Wanne ist voll, der Abfluss zu klein. Daher muss jetzt, ohne Aufschub, gehandelt werden."
Weiter Beiträge in diesem Artikel sind von Claudia Kempfert, Abt. Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Niklas Höhne, Autor des Weltklimarat-Berichts von 2007, Hans-Joachim Schellnhuber, PIK, Fatih Birol, Internationale Energieagentur in Paris, Wolfgang Sterk, Abtl. Klimapolitik, Wuppertal-Institut, Peter Lemke, AWI, Autor des IPCC zwischen 2000 und 2006. Peter Höppe, Georisikoforschung der Munich Re.

Wie Sie sehen, Wissenschaftsrelativismus, Wissenschaftsskeptizismus und Wissenschaftsfeindlichkeit gibt es nicht nur in der Auseinandersetzung mit den Evolutionswissenschaften. Ob das wohl ein Trost für Darwin sein kann?


Ihr
Reinhold Leinfelder



Anhang: Einige Artikel zum Vergleich von Klimaskeptikern mit Kreationisten sowie zu den Pseudoargumenten der Klimaskeptiker
> Happy Birthday, Charles Darwin, von RealClimate-Blog, 2006.
> Climate Change Creationists, Environment Blog, The Guardian, 4.3.2009
> Climate Change Deniers and Creationists, The Ethical Palaeontologist Blog, 10.4.2007
> Die Thesen der Klimaskeptiker - was ist dran? PIK-Homepage v. Stefan Rahmstorf (Sept. 2004)
> Die Klimahysteriedurchschauer und die Medien. Rezension von 2008
> Klimawandel.Eine heiße Debatte. Verursacht der Mensch die globale Erwärmung? Darüber streiten Forscher und Skeptiker erbittert. FOCUS online (2007)


Wer sich zum Klimathema informieren will, dem seien zwei Bücher empfohlen (natürlich gibt es viel mehr empfehlenswertes):
S. Rahmstorf & H.-J. Schellnhuber (2007): Der Klimawandel: Diagnose, Prognose, Therapie. CH-Beck-Verlag.
D. Archer (2008): Long Thaw: How Humans Are Changing the Next 100,000 Years of Earth's Climate (Science Essentials). Princeton University Press


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---- Nachtrag vom 19.11.2009 ----

Um unseren kleinen Vergleich zur Wissenschaftsfeindlichkeit bzw. - akzeptanz von Evolutionswissenschaften und Klimawissenschaften zu komplettieren, sind folgende Fundstücke vielleicht noch interessant:

Kreationisten behaupten gerne, dass Evolutionswissenschaftler selbst missionarisch vorgehen. Tatsächlich wird diese Falschaussage dadurch gestützt, dass einige das komplette Verhalten des Menschen biologisch erklären wollen, sie werden gerne Szientisten oder Biologisten genannt. Wir haben hier mehrfach dazu berichtet. Biologisten scheinen also die Unterstellung der Kreationisten, dass Evolutionswissenschaften selbst eine ideologische Agenda zu verfolgen, zu bestätigen. Grundfalsch ist dabei natürlich die Verallgemeinerung, dass dies für alle Evolutionswissenschaftler gelte. Das Groß der Wissenschaftler kennt die Grenzen der Anwendbarkeit und Erkenntnisfähigkeit ihrer Wissenschaft sehr genau.

Klimaskeptiker unterstellen den Klimawissenschaftlern ebenfalls gerne ideologische Motive, etwa dass unter dem Vorwand des Klimaschutzes die Demokratie abgeschaft werden soll und ein weltweiter Kommunismus errichtet werden soll, wir haben oben darüber berichtet. Hier noch ein Beispiel:
"Global warming has taken the place of Communism as an absurdity that "liberals" will defend to the death regardless of the evidence showing its folly. Evidence never has mattered to real Leftists" oder "The desire to save humanity is always a false front for the urge to rule it" (aus >antigreen.blogspot.com)

Es gibt auch "Klimawandel-Atheisten":
"I am not a global warming skeptic nor am I a global warming denier. I am a global warming atheist. I don't believe one bit of it. That the earth's climate changes is undeniable. Only ignoramuses believe that climate stability is normal. But I see NO evidence to say that mankind has had anything to do with any of the changes observed -- and much evidence against that claim. " (aus >antigreen.blogspot.com)

Eine völlig neue Erfahrung ist allerdings, dass mir nun auch von anderer Seite Inkonsequenz und Relativismus vorgeworfen wird. So wirft mir ein Kommentator namens Karl Weiss in der Online-Zeitung "Berliner Umschau" bezüglich meines Statements in der Süddeutschen Zeitung vom 17.11.09 doch gleich eine ganze Menge vor, nachfolgend ein paar Zitate:
(>Zitat Berliner Umschau) "In der Süddeutschen vom 17.11. 09 wurden die Texte von insgesamt 7 „Experten“ zum „Klimawandel“ ins Netz gestellt, die bereits alle ihre Enttäuschung über das Fehlen des Willens zu einen verpflichtenden Abkommen in Kopenhagen ausdrücken. Allerdings benennt keiner von ihnen das Problem richtig, keiner von ihnen benennt die Verursacher und Hintermänner dieses Fiaskos und keiner von ihnen weiss einen Ausweg. Nicht einer der Experten benennt das Problem klar als „Klimakatastrophe“. Es wird verniedlichend von Klimawandel geredet, von Klimaschutz und einer von ihnen behautet sogar: „Der Mensch deshalb wird nicht als Spezies aussterben . . .“ und legt nahe, die Menschheit, wie wir sie kennen, könnte überleben, wenn der „Point of no return“ in den nächsten Jahren überschritten wird und dann ein selbstbeschleunigender Prozess einsetzt, der von keiner menschlichen Anstrengung mehr gestoppt werden kann.
Zwar hat er rein formal Recht, denn er hat ja nur behauptete „als Spezies“. Tatsächlich könnte nach einer Klimakatastrophe eventuell hier oder dort ein kleines Grüppchen von Menschen unter speziellen Bedingungen überleben, aber „die Menschheit“ wird einer Klimakatastrophe eben zum Opfer fallen.
Wer dieser spitzfindige Verdreher ist? Er heißt Reinhold Leinfelder und ist Berater der Bundesregierung über globale Umweltveränderungen. Na, die Bundesregierung weiss eben, welche Berater man sich holt, nicht wahr?" (Zitat Ende)
Der Artikel nennt sich ">Das Ende der Menschheit - Wir oder sie?" Es wäre unnötig, diesen - pardon - Stuss hier zu erwähnen, aber der Abschluss des Artikels ist besonders aufschlussreich:
(Zitat) "Frau Merkel wird in Kopenhagen keinem Kompromiss über Selbstverpflichtungen zustimmen. Nicht weil sie zu dumm ist, nicht weil sie keine gesamtwirtschaftlichen Rechnungen aufmachen kann (oder sagen wir, selbst wenn sie es könnte), sondern weil sie klare Aufträge hat von Vattenfall, EON und RWE, von Daimler, BMW und VW, von BP und Shell (im europäischen Rahmen). Diese und alle anderen Monopolkonzerne sind die Totengräber der Menschheit, wenn es uns nicht gelingt, sie aufzuhalten.
Wir oder sie – kein anderer Weg ist möglich.
Eine neue - von den Grünen befreite - Umweltbewegung, muss radikal und gegen alle Widerstände eine grundsätzliche Wende der Energiebasis zu erneuerbaren Energien durchsetzen, koste es was es wolle. Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig." (Zitat Ende)

Also, hier wird der Klimawandel, der durchaus katastrophal werden könnte, diesbezüglich ist dem Autor zuzustimmen, aber nur dort, tatsächlich mehr als offensichtlich zu ideologischen Zwecken verwendet, die Klimaskeptiker freuen sich über diese Bestätigung ihrer Unterstellungen. Immerhin bleibt sich Autor Karl Weiss selbst treu. Schon Ende 2007 schrieb er zum Bali-Klimagipfel> in seinem Blog.

(Zitat) "Die Staaten als einzige Macht in den Ländern werden schwächer und können immer weniger internationale Vereinbarungen abschliessen. Gleichzeitig werden kriminelle Mafia-Organisationen und Unternehmen, die ähnlich wie solche agieren (siehe: Siemens), immer stärker und beginnen die Staatsmacht herauszufordern. Die Tendenz geht zu Warlord-Ländern, wo von internationalen Vereinbarungen nicht einmal mehr geträumt werden kann. Einige Entwicklungsländer sind schon weit fortgeschritten auf diesem Weg.
Die sozialistische Revolution steht in jeder Beziehung auf der Tagesordnung." (Zitat Ende)
Und dem Blogautor von AdlD ergeht es wie schon oft: egal ob Evolutionswissenschaften oder Klimawissenschaften, die Attacken kommen von gegensätzlichen Seiten. Aber so ist das halt, wenn man versucht weder alarmistisch, noch relativistisch noch missionarisch zu sein. Herr Weiss, besten Dank für dieses willkommene Beispiel, um die kleine Analogiegeschichte zu Anfeindungen der Evolutionswissenschaften und Klimawissenschaften zu komplettieren.

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Sonntag, 15. November 2009

Palaeontologia Quo Vadis?

Nachdem wir im vorherigen Beitrag auf die sehr frühe paläontologische Evolutionsforschung in Deutschland eingingen, präsentieren wir nachfolgend einen kleinen, persönlichen Kommentar zur Situation der heutigen Paläontologie in Deutschland sowie ihrer möglichen Zukunft.

Die deutsche Paläontologie war und ist im Darwin-Jahr überaus aktiv, die meisten Sonderausstellungen zu Darwin und der Evolutionstheorie beinhalten paläontologische Aspekte, manche Sonderausstellungen, wie im Goldfuß-Museum in Bonn präsentieren Darwin als Geologen und Paläontologen (siehe Bild), und die 79. Jahrestagung der Paläontologischen Gesellschaft fand unter dem Rahmenthema „ Paläontologie - Schlüssel zur Evolution" statt (> Rückblick und Programm). Die Ausstellungen wurden überwiegend in abgestimmter und kooperierender Weise erstellt und sind in einem gemeinsamen Veranstaltungskalender dargestellt. Außerdem vereinbarten die Naturkundemuseen der Deutschen Naturwissenschaftlichen Forschungssammlungen e.V. eine gemeinsame Positionierung gegenüber pseudowissenschaftlichen Angriffen auf die Evolutionsforschung (AdlD berichtete), die gerade auch die paläontologische Evolutionsforschung betrifft. Im Darwin-Jahr fand auch ein Archaeopteryx-Klassentreffen in München statt (AdlD berichtete), aber im Anbetracht des Abwanderns des in Deutschland gefundenen und im Darwin-Jahr nach Norwegen verkauften Darwinius, aka "Tante Ida" (AdlD berichtete) wurden gemeinsame Anstrengungen zum Erwerb in zukünftigen Fällen zwischen verschiedenen großen Museen vereinbart. Erwähnenswert ist auch, dass der 2009 neu gewählte Präsident der Paläontologischen Gesellschaft, Dr. Michael Wuttke beruflich für den Fossilschutz eines Bundeslandes zuständig ist.

Der nachfolgende Auszug aus dem Fazit eines soeben erschienen Artikel fokussiert nun insbesondere auf der Aspekt der Forschung der deutschen Paläontologie:


Palaeontologia Quo Vadis?


Von Reinhold Leinfelder

Die Paläontologie war immer wieder der Pulsgeber der Naturwissenschaften. Nicolaus Steno war, als Begründer der Paläontologie im 17. Jahrhundert seiner Zeit weit voraus. Der Paläontologe Leopold von Buch formulierte bereits vor Darwin kohärente evolutionäre Gedanken. Auch Charles Darwin wäre ohne sein geologisches und paläontologisches Wissen, welches insbesondere auf seinen Mentor und Freund Charles Lyell zurückging, wohl deutlich langsamer vorangekommen. Darwin bezeichnete sich ja auch selbst gerne als Geologe, was die Paläontologie mit einschloss. Paläontologischer Forschung haftete also schon immer ein progressives Element an. Andererseits waren es immer wieder gerade auch Paläontologen, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse leugneten und Evolutionsskeptiker waren. So hielt der große Paläontologe George Cuvier überhaupt nichts von den evolutionären Überlegungen eines Jean-Baptiste Lamarck, obwohl Cuvier selbst hervorragende Ergebnisse zur späteren Untermauerung der Evolutionstheorie Darwins erarbeitete. Im Unterschied zum Biologen Ernst Haeckel lehnten viele deutsche Paläontologen die darwinsche Evolutionstheorie lange ab, so etwa der Münchner Paläontologe Andreas Wagner, der den 1. Archaeopteryx-Fund als darwinistische Propaganda abtat und den Urvogel als ungewöhnliches Reptil ansah (Wagner 1861). Noch 1950, also schon über 90 Jahre nach Erscheinen der „Origin of Species“ von Charles Darwin formulierte O.F. Schindewolf seine Typostrophentheorie (Schindewolf 1950), eine eigenwillige Evolutionstheorie, die im Widerspruch zu Darwins Theorie steht (Korn 2003).
Auch heute gilt es wieder, sich zwischen Zweifel an neuen wissenschaftlichen Befunden und Überinterpretation von Wissenschaft zu positionieren. Die Geowissenschaften tun gut daran, weder bei einer unauthorisierbaren „Siebenmeilenstiefel“-Forschung mitzuarbeiten, noch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber alternativen Ansätzen, wie Molekularbiologie, Systembiologie und physikalisch-mathematischer Klimaforschung zu hegen, sondern sich konstruktiv einzubringen und auch umgekehrt Kompetenz und Kooperation anzubieten. Sehr vieles davon geschieht auch bereits, es gilt dies allerdings noch besser sichtbar zu machen.

Die Paläontologie hat sich in den letzten Jahren zunehmend modularisiert. Dies ist kein Schaden, sondern ein allgemeiner Zug der Naturwissenschaften. Andere Fächer haben damit keinerlei Probleme. Disziplinäre Grenzen verschwinden häufig, die Forschungsprojekte sind stark fragenorientiert und basieren nicht mehr auf angehäuften, jedoch bis dato unbearbeiteten Objekten und Daten. Viele junge, aber auch ältere Paläontologen arbeiten heute selbstverständlich auch mit molekularen und geochemischen Methoden, wie auch umgekehrt molekular arbeitende Biologen und Geochemiker immer enger auch mit Paläontologen zusammenarbeiten. Die Vernetzung der Paläontologen und Geobiologen in die Umweltwissenschaften hinein ist ebenfalls als positiv anzusehen. Die klassische paläontologische Systematik und Taxonomie muss selbstverständlich ein starkes Modul bleiben, denn sie hat starken Service-Charakter für Evolutions-, Biodiversitäts- und sonstige Umweltforschung. Allerdings muss auch sie sich weiter öffnen. Gerade die Methodenvielfalt taxonomischen und phylogenetischen Arbeitens macht ihre Stärke aus. Und auch für die Taxonomie muss die Frage gestattet sein: warum mache ich gerade das, was ich hier untersuche, wem nützt es?

Integratives, ganzheitliches, auch quantitatives Arbeiten stellt die wesentliche, in Teilen jedoch bereits sehr gut angenommene Herausforderung für die Paläontologie dar. Qualitatives Wissen allein, etwa mit Aussagen, dass sich die Umwelt ja immer geändert hat, oder dass es bei Meeresspiegelanstieg zu Sauerstoffzehrung kommen kann, genügt heute nicht mehr. Gefragt ist, wie exakt sich derartige Änderungen quantifizieren sowie, ggf. auf der retrognostischen Methode aufbauend, genügend exakt vorhersagen lassen. Die Biologie zieht ihren Forschungsweg vom Gen zum Genom, von DNA-Expression zu EvoDevo, von Modellorganismen zum quantitativen Studium ganzer Ökosysteme. Die Paläontologie muss ähnliche Wege gehen. Palaeogenomics wird eine wichtige Bedeutung in der Paläontologie erlangen, aber auch datenbankbasiertes Arbeiten, insbesondere unter Benutzung von Sammlungen muss stärker zunehmen. Internationale Plattformen und Infrastrukturen sollten hier umfassend ausgebaut werden. Isolierte Elfenbeintürmchen sind also durch ein Leuchtfeuer aus der ganzen Community einzutauschen.

Gerade in der Öffentlichkeitsarbeit hat die Paläontologie ganz besonders gute Karten. Um den Dinosaurier-Faktor werden die Paläontologen von vielen anderen beneidet, auch wenn sich Paläontologen oft einmal wünschen würden, dass auch häufiger anderes aus ihrer Forschung im Vordergrund stehen möge. Um so besser, dass gerade in Deutschland die Dinosaurierforschung auch kräftig, innovativ und transdisziplinär mit modernsten Methoden weiter voran geht. Ob Dinos leicht Rückenschmerzen hatten, wie viel sie fressen mussten und warum sie es schafften, ihren langen Hals überhaupt zu halten, interessiert viele und findet oft sogar Einzug in Science oder Nature. Auch spektakuläre Neufunde in die Medien zu bringen, fällt nicht allzu schwer. Aber die Gemeinschaft sollte sich nicht darauf beschränken, sondern auch versuchen, Ergebnisse, welche für heutige Herausforderungen relevant sind, etwa zu Paläoklima, fossiler Ozeanversauerung oder Aussterben noch stärker öffentlich darzustellen. Die Trennung in durch Proben und Daten belegbares faktenbasiertes Wissen und hypothetischem Wissen muss dabei ebenfalls verbessert werden.

Ganz wesentlich erscheint mir, dass Geowissenschaftler, darunter insbesondere Paläontologen besser als alle anderen Naturwissenschaftler ein „inniges“ Verhältnis zu Zeitskalen und Zeitdynamik aufweisen. Dies gilt es besser herauszuarbeiten, besser zu beforschen. Die Welt ist nicht statisch, sondern dynamisch, das wussten die Geowissenschaftler als erste. Die Bedeutung dieser Dynamik besser in den Griff zu bekommen, über Verzögerungs- und Kumulationseffekte, nichtlineare, exponentielle oder kaskadenartige Prozesse genauere Aussagen machen zu können, ist eine anstehende wesentliche Aufgabe. Eine höhere Zeitauflösung aller dynamischen Abläufe und Prozesse der Erdgeschichte zu erreichen und damit ein besseres Verständnis für die Elastizität bzw. Reaktivität komplexer Natursysteme zu erarbeiten, ist wohl die größte Herausforderung, aber auch die größte Chance für die Paläontologie der nächsten Jahrzehnte.

Die deutsche Paläontologie verfügt insgesamt über ein weites Spektrum an Forschungsaktivitäten, auf die selbstbewusst geblickt werden kann, auch wenn viele davon tatsächlich nicht mehr ohne weiteres als „klassische“ Paläontologie bezeichnet werden können. Nicht scheuen solle man sich vor der selbstbewussten Verwendung des Begriffs „Paläontologie“, also der „Lehre vom alten Sein“, welche sich auf alle Aspekte und Prozesse des Lebens, sowie auf deren Relevanz für das Heute bezieht, genauso wie auch Politikwissenschaften den Bogen von früher zum heute spannen, um das heute und morgen zu verstehen.

Quelle: Leicht abgeänderter Auszug aus:

Leinfelder, R.R. (2009): Palaeontologia Quo Vadis? - Zur Situation und Zukunft der paläontologischen Forschung. - In: Kohring, R., Riedel, F. & Zobel, K. (eds), Zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Helmut Keupp, Berliner paläobiologische Abhandlungen, 10, 229-243, Berlin. (erschienen am 11.11.2009)

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Leopold von Buch - moderne Evolutionsforschung vor Darwin

von Reinhold Leinfelder

Schon vor Charles Darwin beschäftigte sich der deutsche Geologe und Paläontologe Leopold von Buch mit überaus modern anmutenden evolutionären Gedanken, die nicht nur die Veränderlichkeit der Arten konstatierten, sondern bereits Variabilität, geographische Isolation und - in Ansätzen - Adaptation als Evolutionsprozesse erkannte. Er sah auch Beziehungen zwischen heutigen Lebewesen und früheren Formen etwa von Brachiopoden. Leopold von Buch wurde 1774 in der Uckermark geboren und studierte gemeinsam mit Alexander von Humboldt an der Bergakademie Freiberg. Er arbeitete viele Jahre am Museum für Naturkunde Berlin und verstarb 1853. Die nebenstehende Statue von Leopold von Buch befindet sich an der Fassade de Berliner Museums.

Zu seinem 200. Geburtstag im Jahr 1974 formulierte Helmut Hölder, selbst ein großer Paläontologe zu Leopold von Buchs Werk u.a.:


(Zitat aus Hölder): "Stammesgeschichtliche Aussagen dagegen -- können wir sie bei v. Buch auch schon erwarten? Wir sind geneigt, das zu verneinen, wenn wir daran denken, daß DARWIN in jenen Jahren, als er sich erstmals Rechenschaft über die Veränderung der Arten gab und dem Dogma von ihrer Unveränderlichkeit entgegentrat, in sein Tagebuch die Worte schrieb: ,,Es war als gestehe ich einen Mord ein." v. Buch berichtet dagegen 1841 ohne solche Gewissensbedenken von Crinoiden (Anm. adld: Seelilien) im baltischen Silur,
,,welche offenbar den Ausgangspunkt bilden, aus welchem die späteren Crinoidenformen hervorgehen".

Und er spricht im gleichen Jahr von Brachiopoden des Erdaltertums als von
,,Gestalten .... durch welche häufig ... die Geschichte der inneren Organisation erst begreiflich und anschaulich wird"!

Daß hier von echter Blutsverwandtschaft gesprochen, ohne daß davon viel Aufhebens gemacht wird, dürfte sicher sein. v. Buch gehörte zu jenen ganz empirischen, zunächst untheoretischen Paläontologen jener Zeit, denen der Zusammenhang der Lebensformen aufgrund stammesgeschichtlicher Evolution schon selbstverständlich war, ehe er - nach Verschüttung früherer Quellen wie LAMARCKS -- durch DARWINS Theorie ins Bewußtsein der Wissenschaft und der Öffentlichkeit trat." (Zitat Hölder Ende).

Aber Leopold von Buch war noch viel früher der Evolution auf der Spur. Spannend sind hier insbesondere seine botanischen Arbeiten auf den kanarischen Inseln, die er bereits 1825 publizierte. Wir zitieren wieder die Rede von Helmut Hölder aus dem Jahr 1974:

(Zitat aus Hölder) „v. Buch war auch ein vorzüglicher Botaniker, wie seine Abhandlung einer ,,Übersicht der Flora auf den canarischen Inseln" (1825) beweist. Hier findet sich eine Erkenntnis, die man als ,,geistige Leitmuschel" sicher erst in unserem Jahrhundert erwarten würde. Es heißt dort nämlich bei Betrachtung der Verschiedenheit der einzelnen Inselfloren und ihrer Beziehungen zum benachbarten Festland:
,,Die Individuen der Gattungen auf Continenten breiten sich aus, entfernen sich weit, bilden durch Verschiedenheit der Standörter, der Nahrung und des Bodens Varietäten, welche, in ihrer Entfernung nie von anderen Varietäten gekreuzt und dadurch zum Haupttypus zurückgebracht, endlich constant und zur eigenen Art werden. Dann erreichen sie vielleicht auf anderen Wegen auf das Neue die ebenfalls veränderte vorige Varietät, beide nun als sehr verschiedene und sich nicht wieder miteinander vermischende Arten."

Hier haben wir das Prinzip der Isolation bei der Artbildung, also die Rassenkette, wie wir heute sagen, die sich differenziert, immer weiter ausbreitet und endlich vielleicht gar wieder Berührung mit ihrem Ausgangspunkt gewinnt, wo nun aber ihre Endglieder als neue Art erscheinen. Wenn auch nicht zu erkennen ist, daß v. Buch dieses Prinzip in der Paläontologie schon bewußt angewandt hätte, so kann doch kein Zweifel darüber bestehen, daß er auch die Evolution der fossilen Lebewelt in diesem Sinne sah -- also doch nicht nur als Empiriker, sondern auch bereits als hochbedeutender Theoretiker der Faktorenfrage. Als solcher
zeigt er sich auch im Hinblick auf das Erlöschen der Ammoniten in der Kreide (1849):
"Die Art dieses Verschwindens hat jedoch etwas sehr Auffallendes. Die meisten Ammoniten scheinen schon anfangs an der Schwäche zu leiden, welche sie endlich ganz aus der Schöpfung vertreibt. Die Windungen stehen bei vielen nicht vollständig in einer Ebene... Bald fehlt ihnen sogar die Kraft, sich den vorigen Windungen fest anzulegen; diese stehen frei, es bildet sich der nur in der Kreide vorkommende Crioceras... endlich die (Gestalten) der Hamiten und die der ganz wie ein Stab gerade und senkrecht in die Höhe gerichteten Baculiten, und das ist der letzte Versuch des Thieres, sein Dasein zu sichern. Seitdem erscheint nichts wieder, was an diese Art der Cephalopoden erinnern könnte..... es sind Leitformen."

Es berührt uns erneut, ein bis heute lebhaft diskutiertes Problem schon damals in einer Weise beantwortet zu sehen, wie wir sie erst in einem späteren Stadium der Forschung erwartet hätten." (Zitat Hölder Ende)

Aus: Hölder, Helmut (1975): Leopold von Buch - Gedenkwort zu seinem 200. Geburtstag (vorgetragen bei der Jahresversammlung 1974 der Paläontologischen Gesellschaft).- Paläontologische Zeitschrift, 49, 5-10, Stuttgart.
(online unter >http://www.springerlink.com/content/03164k8926826477/fulltext.pdf )


(Helmut Hölder, Jahrgang 1915, Professor für Geologie und Paläontologie war bis zu seinem Ruhestand an der Universität Münster tätig. Seit vielen Jahren beschäftigt er sich mit der Geschichte der Geologie und Paläontologie in Deutschland. Sein bibliothekarischer Nachlass befindet sich an der Universität Freiburg, siehe hier:
>http://www.ub.uni-freiburg.de/xopac/ub_freiburg/hoelder.html
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Über Darwin und die Sklaverei, evolutionäre Kopfsteinzeiten und unvernünftige Theologen

Wenn seit Sommer auch in etwas eingeschränkter Weise, so erschienen doch das ganze Jahr über erstaunlich viele Artikel rund ums Darwin-Jahr. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen konnte und wollte ADLD diese Artikel nicht alle im Einzelnen vorstellen oder kommentieren. Statt dessen verweisen wir auf unsere thematischen Google-News-Liste in der rechten Spalte von ADLD (relativ weit unten) sowie auf unseren Artikel-Clipboard-Dienst am unteren Ende dieser Seite. Vor dem 150. Jahrestag des Ersterscheinens von Darwins "On the Origin of Species" (erschienen 24. November 2009) nehmen nun nicht nur die landesweiten Darwin-Aktivitäten, sondern auch die Medienberichte wieder zu, ob es nun ein Jahresendspurt wird oder das Thema Evolution auch im nächsten Jahr im öffentlichen Interesse hoch angesiedelt bleibt, wird sich herausstellen. Jedenfalls Grund genug, auf drei in den letzten Tagen erschienene, sehr interessante Artikel nachfolgend direkt hinzuweisen:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.2009:

Darwin und die Sklaverei. Der größte Fluch auf Erden

Dieser umfassende Artikel von Henning Richter diskutiert sehr differenziert, dass der "Daseinskampf" im Denken Darwins nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, da er mit "survival of the fittest" bzw. dem späteren "struggle for existence" weniger den Kampf als vielmehr die Anpassung an veränderte Existenzbedingungen meinte.

Zitate aus dem Artikel:
"Der Entwicklungsprozess ließ für Leidenschaften im Guten wie im Bösen keinen Raum, und folgerichtig war die Theorie Darwins, im Gegensatz zur darwinistischen Weltanschauung, auch ein einziges Plädoyer, die Natur nicht länger unter moralischen Kategorien zu betrachten. Der Entwicklungsprozess ignorierte alle moralischen Begriffe, und angesichts der großen Rechnung, die er aufmachte, musste es aussichtslos erscheinen, ein Bild des Geschehens festzuhalten, in das moralische Kategorien eingewoben waren. Er rechnete in Zeitdimensionen, in denen die Epochen der Moral nur eine Episode ausmachten. ....
Die Entmoralisierung, die durch Darwins Theorie bewirkt wurde, konnte eine Betrachtungsweise nicht gänzlich entmutigen, die, zurückblickend auf das ungeheure Ausmaß der Gewalt in der Geschichte, diese als Bedingung der Höherentwicklung rechtfertigte oder zumindest in Rechnung stellte. Es war verlockend und doch ein Missverständnis, auch die geschichtlichen Siege und Niederlagen mit dem kalten Blick der Evolutionslehre zu betrachten.....
Das Viktorianische Zeitalter bediente sich des Euphemismus der Anpassung, wenn es die Grausamkeit der sozialen Forderungen meinte. In der Sprache von Darwins „Origin of Species“ wurde freilich alles getan, um solche Grausamkeitsassoziationen zu unterbinden. Offenbar wolle Darwin jede Analogisierung mit der menschlichen Erfahrungswelt fernhalten, wie er auch sonst in seinem Hauptwerk jede Anwendung seiner Theorie auf den Menschen aus seinen Darlegungen ausklammerte. ...
Es gehörte zu Darwins publizistischer Strategie, Auseinandersetzungen über theologische und soziale Fragen im Zusammenhang mit seiner Theorie zu vermeiden. In der Zeit, als er den Auslesemechanismus entdeckte, war seine Sprache energischer als später. Man weiß aus seinen Notizbüchern, dass eine Lektüre des berühmten Bevölkerungsessays von Robert Malthus zu seiner Erkenntnis des Auslesemechanismus entscheidend beigetragen hatte.
...... So steckte in dem entwicklungsgeschichtlich begründeten Begriff der Zivilisation eine Verrohung, die nur durch eine von der Evolution nicht vorgesehene humane Energie zum Ausgleich gebracht werden konnte. Um so bedrückender musste es erscheinen, wenn diese Aufgabe versäumt wurde durch die Verblendung, der die tüchtigsten Vertreter der Zivilisation erlagen, weil sie die Humanität durch den Entwicklungsprozess für garantiert hielten....
Auf diese vertrackten Verhältnisse von Moral und Evolution reagierte Darwin mit einem moralischen Quietismus. Diese Haltung hat er nur in einer einzigen Frage aufgegeben - in der Sklavenfrage. Es war die einzige moralische und politische Frage, zu der er öffentlich Stellung bezog. .... Dass die Portugiesen völlig ungestört Afrikaner nach Brasilien brachten und dass hier keine Schritte zur Sklavenbefreiung unternommen wurden, nannte Darwin einen „Skandal der christlichen Nationen“. ...
Darwins Erschrecken zeigt wie kaum eine andere seiner Äußerungen das Bedürfnis, in moralische Distanz zu seiner Zeit zu treten. ...
In seinem Briefwechsel mit Asa Gray, dem amerikanischen Anhänger seiner Lehre, ließ er sich, erregt über den Krieg um die Sklaverei, sogar zur Anrufung Gottes herbei: „Ich habe nicht eine einzige Seele gehört oder gesehen, die nicht mit dem Norden ist. Einige wenige, und ich bin einer davon, flehen sogar zu Gott, dass der Norden, sogar um den Preis des Verlusts von Millionen Menschenleben, einen Kreuzzug gegen die Sklaverei ausrufen möge.“ Der Gewinn für die Sache der Humanität würde sich auf lange Sicht vielfach auszahlen, auch wenn eine Million Tote in Kauf zu nehmen wären.
Mit dem Ausruf: „Großer Gott, wie gerne sähe ich diesen größten Fluch auf Erden, die Sklaverei beseitigt“, schloss Darwin sein Bekenntnis. ...
Keine Lehre des neunzehnten Jahrhunderts hat die Grausamkeitsphantasie der Zeit so sehr angeregt wie der Darwinismus mit seinen Schlagworten vom Daseinskampf und vom Überleben der Tüchtigsten. ...Dieser Darwinismus der Grausamkeit hat lange Zeit einen Schatten auf die Theorie Darwins geworfen und legt die Behauptung nahe, dass Darwin kein Darwinist gewesen ist."

(die Zitate können den Inhalt des Gesamtartikels nicht repräsentativ wiedergeben, das Lesen des gesamten, überaus informativen Artikels wird sehr empfohlen >> zum Artikel)

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Die Süddeutsche Zeitung hat ihre Darwin-Serie, die in unregelmäßiger Folge erscheint, während des ganzen Darwin-Jahrs bisher durchgehalten. Sebastian Herrmann schrieb nun den 27. Beitrag unter dem Titel:

Die Steinzeit im Kopf - Dynamische Umgebung, veränderlicher Geist.
(Süddeutsche Zeitung vom 12.11.2009).

Hieraus einige Auszüge:
"Wurde das heutige Verhalten dem Gehirn schon während der Steinzeit eingemeißelt? Muss der Mensch deshalb fremdgehen oder Blondinen lieben? Diese Thesen sind beliebt - aber äußerst fragwürdig.
Scarlett Johansson verdankt ihre Karriere dem Wollhaarmammut. Weil die Jagd nach den großen elefantenähnlichen Tieren einst so gefährlich war, konnte die blonde Schauspielerin heute zum Traum vieler Männer werden. Scarlett Johanssons Beliebtheit und das Wollhaarmammut - diese logische Kette ist selbstverständlich brüchig, der Zusammenhang konstruiert. Doch es passt zu einer Nachricht, die vor einiger Zeit aus der schottischen Universität St. Andrews drang.
Demnach seien am Ende der vergangenen Eiszeit in Nordeuropa Frauen in der Überzahl gewesen. Nahrungsknappheit habe die Männer gezwungen, gefährliches Großwild zu jagen - vielleicht sogar Wollhaarmammuts. So eine Steinzeitpirsch war aber riskant, viele Jäger ließen ihr Leben. Für die dezimierte Männerschar entpuppte sich das als Vorteil: Die Überlebenden waren wenige und begehrt. Sie konnten sich die Partnerinnen nehmen, die ihnen gefielen, und sie wählten das Besondere - Frauen mit blonden Haaren.
So verbreiteten Nordeuropas Männer vor Tausenden Jahren die damals noch junge Erbgut-Mutation für helles Haar. Es ist eine nette und schlichte Geschichte, die weit über Studierstuben hinaus Beachtung fand. Wegen der Mammutjäger finden Männer Blondinen attraktiv, wurde in der Öffentlichkeit munter interpretiert.
Solche Behauptungen sind nicht weit entfernt von den Kernaussagen der Evolutionspsychologie. Deren Vertreter argumentieren, der menschliche Geist sei noch immer an ein Leben als Jäger und Sammler angepasst. Verhalten, das sich während der Entwicklung des modernen Menschen vor 100.000 Jahren in der Savanne Afrikas oder Jahrtausende später bei der Großwildhatz als Überlebensvorteil erwies, sei bis heute in der Psyche verankert......
Ist es das, was Charles Darwin meinte, als er schrieb, seine Theorie stelle die Psychologie auf eine ganz neue Grundlage? Oder handelt es sich bei den Erklärungen der Evolutionspsychologie um Phantastereien und naive Überinterpretationen? ....
Männer stehen demnach auf Frauen, die jünger als sie sind, weil sie ihnen viele Kinder gebären können. Frauen verlieben sich in ältere Männer mit hohem Status, weil sie ihre Kinder besser versorgen können - das schreibt zum Beispiel David Buss, Evolutionspsychologe der Universität Texas. ...
Randy Thornhill und Craig Palmer behaupten in ihrem Buch "A Natural History of Rape" sogar, Männer trügen eine Art Vergewaltigungsgen in sich. Wer einst Frauen mit Gewalt zum Sex zwang, der habe mehr Nachkommen gezeugt als ein prähistorischer Romantiker. Vergewaltigung sei also eine erfolgreiche evolutionäre Strategie und gehöre zum vererbten Verhaltensrepertoire, lautet die provozierende Argumentationslinie der amerikanischen Wissenschaftler. ...
Tatsächlich wandelt sich auch das menschliche Erbgut sehr viel schneller, als die Begründer der Evolutionsbiologie angenommen haben. Epigenetiker zeigen, wie ständig neue Erbgutabschnitte aktiviert, andere lahmgelegt werden. An Mäusen lassen sich die Spuren traumatischer Erfahrung aus deren Kindheit in der Aktivität einzelner Gene nachweisen....
Aber im Schädel des Menschen soll ein Grottengeist aus der Steinzeit hausen? Das Dogma der Evolutionspsychologie, der Mensch habe das Fundament seines Geistes seit 10.000 Jahren nicht verändert, ist mit solchen Forschungsergebnissen unvereinbar.... So bleibt die Theorie wohl nur eine dieser netten Geschichten - von Männern, Frauen und Sex."

(Auch hier konnten nur einige Ausschnitte wiedergegeben werden, >> hier geht es zum kompletten Artikel)
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Süddeutsche Zeitung vom 13.11.2009

Der Außenseiter Vernunft. In der Amtskirche bleibt die kritische Theologie unerwünscht.
Von Martin Urban

Ausschnitt: "Religiöse Gefühle soll man nach alter Sitte nicht verletzen. Die Vernunft dagegen darf man ungestraft beleidigen. Die Kirchen fühlen sich hierzulande zuständig für die religiösen Gefühle. Sie prägen die unterschiedlichen Vorstellungen davon, was denn beleidigend sein kann und was nicht. Die Vernunft darf traditionell außen vor bleiben. Seit mehr als hundert Jahren gibt es die historisch-kritische Theologie. Aber deren Erkenntnisse werden nicht beachtet. Das würde die gerne zitierten "geistlich Armen" beleidigen.
... Mittlerweile klaffen Welten zwischen dem frommen Geschwätz und dem Wissen der historisch-kritisch arbeitenden Theologen beider Konfessionen, ergänzt um die Forschungsergebnisse anderer Wissenschaften. Die Brüchigkeit der Fundamente zeigt sich in der wissenschaftlich fundierten Deutung insbesondere der Bibel, des wirkmächtigsten Buchs der Weltgeschichte. Wer sie einfach nur liest, muss sie missverstehen, und das nicht erst seit heute. Die Bibel sorgt seit 2000 Jahren für Missverständnisse, das ist so gewollt.
.... Der Rückmarsch in den Fundamentalismus ist auch ein Politikum
.... Nur einzelne forschende Theologen wehren sich öffentlich gegen den schlichten Kirchenglauben. Viele habben Angst, sie müssten als Erste dran glauben, wenn theologische Lehrstühle mangels Interesse von Studenten geschlossen werden sollten. Und so spielen die Erkenntnisse der kritischen Theologie im Diskurs der Wissenschaften heute außerhalb der Feuilletons (fast) keine Rolle."

Der Artikel ist online nicht unter sueddeutsche.de verfügbar, ein Blogger hat ihn jedoch > hier eingestellt.

Martin Urban war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2001 der Leiter der Wissenschaftsredaktion der Süddeutschen Zeitung. Er ist u.a. Autor des Buchs "Wer leichter glaubt, wird schwerer klug. Wie man das Zeifenln lernen und den Glauben bewahren kann" (Informationen zu Martin Urban auf Wikipedia)
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Abbildungsquellen:

oben: http://www.peacebuttons.info/E-News/images/peacehistorymarch.htm
Mitte: Rekonstruktion eines Neandertalers mit moderner Kleidung, aus:
http://www.darkdaily.com/neanderthalgenome-sequenced-using-dna-from-38000-year-old-bones
unten: gefunden in http://forum.gamed.de/showthread.php?t=168491&page=62

Mittwoch, 4. November 2009

Das "Darwin-Jahr-Komitee" jagt Naturkundemuseen?

von Reinhold Leinfelder

Schade, gerade wollte ich einen Beitrag des mit Kürzel AM redaktionell verantworteten Evo-Magazins mal loben, schon passiert da folgendes:

In seiner Presseschau vom 30.10.09 für die Website "Evolution ist überall!" sieht AM schon wieder ein deutsches Naturkundemuseum, gar noch ein staatliches von Kreationisten unterwandert ("Kreationisten im staatlichen Naturkundemuseum" ). Und das wird gleich noch garniert damit, dass das Museum auch noch zu dem von Reinhold Leinfelder (also mir) geleiteten DNFS-Konsortium gehört, und dass ich diese Kreationistenunterwanderung offenbar gut leiden könne. Dies natürlich ganz im Gegenteil zum Eingehen auf weltanschauliche Konsequenzen der Giordano Bruno-Stiftung und der AG Evolutionsbiologie durch die Evolutionstheorie (AM ist Mitglied der Giordano Bruno-Stiftung). Das kann ich ja wohl gar nicht ab, denn ich hätte ihnen (gemeint ist wohl ein sog. Darwin-Jahr Komitee, welches die "Evolution ist überall"-Webseite betreibt) auch noch untersagt, auf Veranstaltungen in Museen der DNFS hinzuweisen. Und damit die Katastrophe auch noch perfekt ist, weist AM auf eine weitere Unglaublichkeit hin, eine Arche Noah im Naturkundemuseum in Düsseldorf, angeblich ein weiterer großer Hit für die Sechs-Tage-Theoretiker.


Die Evolution der Gliedmaßen der Wirbeltiere vom Fisch zum Amphibium, aus der Stuttgarter Evolutionsausstellung "Der Fluss des Lebens"


Gut, dass wir derart kritischen Webjournalismus haben, der auf solche Skandale hinweist. Aber eine kurze Stellungnahme, ähm, auch ein bisschen Korrektur, sei gestattet:

1) die erwähnte Arche Noah steht nicht wie behauptet im Naturkundemuseum in Düsseldorf, sondern in Erfurt. Unter dem angegebenen Link zum Naturkundemuseum Düsseldorf verbirgt sich ein Link zu einer weiteren heißen Reportage von AMs Presseschau, diesmal vom 22.10. Dort wird allerdings vom Naturkundemuseum Erfurt berichtet. Oops, AM. Aber wollen wir mal nicht so sein, dann eben die Erfurter: sie haben "sich entschlossen, die Artenvielfalt ausgerechnet mit Hilfe der Arche Noah und ihrer tierischen Bewohner" zu erklären. "Gäbe es einen Preis für schlechte Ideen", wüsste AM den Erstplatzierten. Schön. Und erst mal danke für den Hinweis - diese Ausstellung kannte ich nämlich noch gar nicht.

Sieht man nun ganz weltanschaulich verstört auf der Seite des Naturkundemuseums Erfurt nach, wird dort deutlich zum Ausdruck gebracht, dass die Arche Noah ein Symbol für die Bewahrung der Artenvielfalt darstellen soll. Überlesen hat AM allerdings offensichtlich folgendes auf der Website: " Unter der Schiffsbrücke erzählt die Schiffsratte Rainer den kleinen Besuchern die Geschichte der Arche Noah: "Wie es wirklich war!""

Die Fotos der Erfurter Ausstellung zeigen, dass die Anordnung der Objekte innerhalb der Arche Noah nach biogeographischen Regionen (z.B. Neotropis, Äthiopis) vorgenommen wurde, ganz schön wissenschaftlich, sogar bis in die Antarktis ist die Arche Noah vorgestoßen. Das Ganze erscheint mir also in etwa so viel Arche Noah wie auch die Beagle Arche Noah war. Ob man die Arche-Idee nun gut findet oder nicht, kann ja jeder selbst entscheiden, aber was das Verwenden von Metaphern oder Symbolen mit Kreationismus zu tun hat, muss mir erst mal jemand erklären. Ach so, Begriffe wie Arche Noah oder Schöpfung outen einen als Kreationisten? Ja, dann. Auch die Bundesregierung ist dann also komplett kreationistisch. Denn bei dem Ministersegment des UN-Biodiversitätsgipfels setzte die Bundeskanzlerin einen "Meilenstein für die Bewahrung der Schöpfung", indem sie für 2009-2012 zusätzliche 500 Mio. Euro für den weltweiten Schutz der Wälder und Ökosysteme versprochen hat, danach soll es jährlich jeweils eine halbe Milliarde werden (siehe Pressemeldung). AM, wie wäre es mit dieser Schlagzeile "Bundesregierung fördert kreationistisches Gedankengut mit mehreren Milliarden Euro". Ach so, das war die CDU-Kanzlerin. CDU hat ja schon mit dem C im Namen zugegeben kreationistisch zu sein, nicht wahr? Genau, denn die SPD hat diese Meilenstein-These ja auch kräftig kritisiert, etwa in dieser Meldung. Aber Mist, dort wurde nur kritisiert, dass man mehr tun müsse, um die Schöpfung zu bewahren, denn auch hier steht: "Noch haben wir die Möglichkeit, an der Bewahrung der Schöpfung politisch mitzuwirken. Je länger wir zögern, desto teurer und schwieriger wird der Klimaschutz." Und bei den Grünen sieht es auch nicht besser aus, die wollen auch "Die Schöpfung bewahren". Alles Kreationisten, quer durch die Naturkundemuseen, quer durch die Parteien. Armes Deutschland, Katastrophe, lamentando. Oder hat das mit den Metaphern vielleicht doch eine andere Bedeutung? Ich biete mal meine Lieblings-Arche-Noah (Cartoon oben) zur Diskussion an.

2) Ja, die Info zum Begleitprogramm der Stuttgarter Evolutionsausstellung scheint richtig zu sein, wie eine Nachfrage meinerseits ergab. Hervorragende Recherche, denn die Namen der teilnehmenden Kreationisten stehen offensichtlich noch nirgendwo. Auf der Webseite des Museums steht bislang nur, dass am 24.11.09, also dem Tag der Erstveröffentlichung von Darwins "On the Origin of Species" ein Evolution Day im Museum stattfindet, mit folgendem Abendprogramm: "18 h Design ohne Designer? Eine hochkarätig besetzte Podiumsdiskussion zwischen Evolutionsbiologen und Darwinkritikern". Mir sind inzwischen auch die Namen nicht nur der Kreationisten, sondern auch der Wissenschaftler bekannt, die an der Diskussionsrunde teilnehmen und ich bin sicher, es wird spannend.

Auch hier ist natürlich jedem Museum freigestellt, ob es mit Kreationisten diskutiert oder nicht, auf die Stufe von Wissenschaft werden Kreationisten durch eine derartige Diskussion deswegen noch lange nicht gestellt. Wenn ich mit einem Politiker diskutiere, werde ich selbst nicht zu einem und umgekehrt er nicht zu einem Wissenschaftler, und wenn ich mit einem Theologen diskutiere mutieren mich geheime Kräfte auch nicht zu einem Pfarrer. Dem Museum und auch mir (die Museen sind auch innerhalb von Konsortien unabhängig) jedoch zu unterstellen, dass wir die Auftritte von Kreationisten gut leiden können? Sollte ich versucht sein, von Creationism Delusion zu sprechen? OK, lassen wir das. Aber statt dessen der dringende Appell: schauen Sie sich doch mal die Stuttgarter Evolutionsausstellung an, um die es ja insbesondere geht. Kaum ein anderes Haus hat sich derart viel Mühe gemacht, sich gegen Kreationismus zu positionieren. Da wird der Flagellenmotor an einem sehr guten Objekt erklärt und die pfiffige "Kreationismus-Waage" ist auch klasse. Trotz immenser Füllung mit Kreationismusbüchern senkt sich die Waagschale auf der Seite, auf der zwei Darwin-Bücher liegen. Kreationismus hat keine Chance, die Wissenschaft zu diskreditieren. Prädikat sehenswert! Und ansonsten: die DNFS, also dieses erwähnte Konsortium hat zum Beginn des Darwin-Jahrs ein gemeinsames Positionspapier gegen Kreationismus publiziert, gibt's auch auf diesem Blog nachzulesen. Und dass ich selbst gerne mit Kreationisten kuschle, wird wirklich zum allerersten Mal impliziert, Teile meiner Stellungnahmen gegen Kreationismus sind hier aufgelistet.

Abbildungen: oben: Nicht die Arche Noah, sondern ein Beagle-Nachbau ziert die Stuttgarter Evolutionsausstellung.
darunter: Wissenschaftliche Erklärung des Flagellenmotors, ein entkräftetes Paradebeispiel der Intelligent-Design-Kreationisten. Modell im Stuttgarter Naturkundemuseum.


Abb. Kreationismus versus Evolutionswissenschaften. Auch noch so viel kreationistisches Papier (links) kann fundamentale evolutionsbiologische Arbeiten wie die von Charles Darwin (rechts: Die Entstehung der Arten sowie Die Abstammung des Menschen) nicht aufwiegen. Installation gegen Kreationismus in der Evolutionsausstellung des Stuttgarter Naturkundemuseums.

3) Als angeblichen Beleg dafür, dass ich es nicht leiden kann, dass die Giordano Bruno Stiftung und die AG Evolutionsbiologie "auch auf die weltanschaulichen Konsequenzen der Evolutionstheorie eingehen" wird ein Link zu meinem Blogeintrag "Instrumentalisierung von Darwin durch religionskritische Stiftung?" geschaltet. Also was kann ich nicht leiden? Genau: Instrumentalisierung. Das hat Darwin nicht verdient. Ich habe mit vielen Kollegen, die in der AG Evolutionsbiologie oder auch in der Giordano Bruno Stiftung aktiv sind, überhaupt keine Probleme, sondern kooperiere teilweise mit ihnen. Ich wage auch zu bezweifeln, dass dieser Presseschaueintrag von AM wirklich auch im Namen der AG Evolutionsbiologie geschrieben wurde. Weltanschauliche Konsequenzen sollen nach meiner Meinung nicht diskutiert werden? Die Beiträge in diesem Blog sind voll von Diskussionen dazu. Die Frage, die ich aufwerfe ist nur, ob zusätzlich zu unserem naturwissenschaftlichen Weltbild, welches sich auf Darwin und andere Wissenschaftler begründet, jeder auch darüber hinaus verpflichtend eine allgemeingültige Weltanschauung adoptieren muss oder ob bei weltanschaulichen Fragen nicht jeder selbst für seine Anschauung verantwortlich sein sollte. Ich hab nichts gegen Diskussionen oder Anführen von Argumenten zum Überzeugen anderer, nur gegen Missionarisches, von welcher Seite auch immer, hab ich was.

4) Ich hätte untersagt, auf Veranstaltungen der DNFS-Museen im Kalender von "Evolution ist überall" hinzuweisen. Die DNFS betreibt einen eigenen Kalender und nimmt dort nur Termine auf, wenn wir darum gebeten werden. Keiner soll sich von der DNFS instrumentalisiert fühlen. Umgekehrt gibt es ebenfalls Regeln, etwa Bilder zu übernehmen, ungefragt sollte dies nicht passieren. Ob wir mit der Befürchtung, dass wir ggf. für Zwecke außerhalb der Naturwissenschaft instrumentalisiert werden könnten, richtig lagen, kann ja jeder Leser - ggf. auch unter Berücksichtigung dieses Eintrags - für sich selbst entscheiden.

5) Ach so, ich wollte ja auch loben. Klar, wird nicht vergessen, denn wir können doch Dinge auseinanderhalten. Nun ganz ehrlich: Vielen Dank für den Artikel zur Kampagne "Kreationisten aller Länder vereinigt Euch". Das ist ja wirklich nochmals ein Versuch, geballt die Wissenschaft in Misskredit zu bringen. Tatsächlich sollte man die ProGenesis-Kreationisten weiter im Auge behalten. (Dieser Artikel ist mit Darwin-Jahr-Komitee unterschrieben).

Ein Vorschlag zur Güte an AM: berichten wir doch weiter möglichst Interessantes und Erwähnenswertes rund ums Darwin-Jahr und lassen Unterstellungen einfach weg. Einverstanden?

Ihr
Reinhold Leinfelder

Die Ausstellung "Der Fluss des Lebens. 150 Jahre Evolutionstheorie am Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart (Schloss Rosenstein) ist noch bis Mai 2010 geöffnet. Weitere Informationeun unter www.evolution2009.de

Abbildung ganz oben aus scienceblogs.com
Der Arche Noah-Cartoon stammt von bruxelles.blogs.liberation.fr
(exakt: http://bruxelles.blogs.liberation.fr/coulisses/2009/02/prix-européen-du-dessin-de-presse.html )
Weitere Abbildungen von R. Leinfelder, aus Staatlichem Museum für Naturkunde Stuttgart, mit Genehmigung verwendet.

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Nachtrag vom 5.11.09: kleiner Hinweis: AM hat die falsche Linkbezeichnung (Link zu Beitrag zu Erfurter Naturkundemuseum war fälschlicherweise als Beitrag zum Düsseldorfer Naturkundemuseum bezeichnet) nun geändert.
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