Montag, 28. Dezember 2009

Darwin und Weltbilder ein Jahr später - gibt es ein Fazit?

Während der letzten Wochen war berufsbedingt keine Zeit für weitere Blogeinträge, aber nun ist es Zeit, so langsam an ein Fazit des Darwin-Jahrs zu denken. Hierzu finden Sie nachträglich mein (Teil-)Fazit sowie meinen Ausblick (beides aus einem ausgearbeiteten Vortragsmanuskript. Den Vortrag hielt ich schon vor etlichen Monaten an meinem "alten" Gymnasium, in dem ich zur Schule ging und das Abitur machte). Der Text ist damit zwar schon ein paar Monate alt, er hat aber gerade wegen des "Kopenhagen"-Gipfels sowie des Übergangs in das UNO-Jahr der Biodiversität 2010 vielleicht doch eine gewisse Aktualität und schlägt auch ein paar versöhnliche, "nachweihnachtliche" Töne an.

Auszüge aus: (R)evolutionär unseres Weltbildes - Die Evolutionstheorie im Jahre 200 nach Darwin. Von Reinhold Leinfelder

Fazit: Selbstbeschränkung und Kooperation

Aus den Diskussionen und Debatten im Darwin-Jahr 2009 kann man vieles lernen. Den Naturwissenschaften ist dringend eine notwendige Selbstbeschränkung anzuraten: Naturwissenschaften sind zuständig für das Verständnis des „Wie funktioniert die Natur“? Wenn sie vom „Zweck“ reden, machen sie keine existenziell sinnhaften Aussagen, sondern sprechen über biologische Funktionen. Naturwissenschaftler sollten auch akzeptieren, dass es noch offene, vielleicht sogar wissenschaftlich nie lösbare Fragen gibt. Aber auch die Religionen sollten Selbstbeschränkung üben. Wo nachgefragt sind sie zuständig für Sinnfragen und „Metaphysik“. Religionen liegen für mich auf anderen Ebenen als Naturwissenschaften und kommen sich deshalb in aller Regel mit den Naturwissenschaften nicht in die Quere. Naturgemäß sind die Antworten der Religionen nichtwissenschaftlich (wobei ich hier nicht die Religionswissenschaften meine), sondern stellen Glaubensaussagen dar, man kann diese glaubhaft oder gar vernünftig finden oder auch nicht. Ein naturwissenschaftliches Weltbild kann als solches philosophisch reflektiert werden und zu einer persönlichen agnostischen oder atheistischen Weltanschauung erweitert werden, es kann aber auch um ein religiöses Weltbild zur Sinnhaftigkeit der Welt ergänzt werden und dann in eine wissenschaftsoffene, religiöse Weltanschauung münden. Beides ist weder zwingend noch allgemeingültig, sondern eine rein persönliche Entscheidung. Weltanschauliches Missionieren lehne ich von allen Seiten ab, sofern nicht nur ein Überzeugen durch Beispiel und Diskurs damit gemeint ist. Religiöse Traditionen sind allerdings auch Teil unseres Kulturverständnisses. Kulturelle Traditionen sind jedoch nicht sakrosankt, sie müssen natürlich hinterfragbar sein. Speziell für den Schulunterricht wären vielleicht modernisierte Bibelexegesen als Grundlagen für den Religionsunterricht wünschenswert. Es sollte auch durchaus Diskussionen zwischen Religion und Biologie geben, allerdings bei Wahrung der inhaltlichen Abgrenzung. Das Beispiel Kreationismus ist als Thema für entsprechende transdisziplinäre Module geeignet, um gemeinsam sowohl korrektes wissenschaftstheorisches Arbeiten als auch die Metaphysik der Religionen zu behandeln. Insgesamt muss die Evolutionstheorie auch möglichst authentisch vermittelt werden. Hierzu eignen sich Versuche und Beobachtungsreihen im Schulunterricht, Besuche in Universitätslabors sowie Integration von thematischen Schulausflügen in Zoos, botanische Gärten und Naturkundemuseen.


Abb. Hypothetisches Schema der Situationsbezogenheit von Wechselwirkungen zwischen evolutionsbiologischem Erbe und kultureller Evolution. Grün: biologisches Anteile, Orange: kulturelle Erweiterung, Orange um Grün: Kulturelle Überprägung des biologischen Anteils. Hellblau: gesellschaftliche normative „Kontrollkappe“.

a. wesentliche Grundbedürfnisse des Menschen, wie Essen und Schlafen sind selbstverständlich biologisch dominiert. Sie können in einem gewissen Umfang kulturell kontrolliert werden (Verteilung der Nahrungsaufnahme auf Frühstück-, Mittags-, und Abendessen, vegetarische Ernährung; teilweise Nachtarbeit ohne Schlaf), eine normative Kontrolle (z.B. Erwerb statt Raub von Nahrung) ist ebenfalls vorhanden.
b. Wissenschaft und Technik sind stark kulturell dominiert. Zwar verwenden bereits viele Tiere Werkzeuge, diese werden jedoch in der Regel nicht extra hergestellt. Auch ist die wissenschaftliche Neugier sicherlich zum Teil biologisch begründet. Wissenschaft und Technik können als Kulturtechniken in gewisser Weise als verlängerter Arm der biologischen Evolution gesehen werden, denn sie erlauben dem Menschen eine enorme Anpassung an seine Umwelt, auch an sich ändernde Bedingungen. Da die Fortschritte jedoch nicht genetisch, sondern kulturell tradiert werden, stellt diese Form gleichzeitig eine starke Emanzipation von unserem biologischen Erbe dar. Die starke Eigenständigkeit solcher kultureller Prozesse, darunter auch die Forschung benötigt jedoch eine besonders starke normative „Kontrollkappe“. Nicht alles Machbare ist gesellschaftlich sowie für das Überleben der Menschheit sinnvoll.
c. Unser sonstiges zwischenmenschliches und gesellschaftliches Verhalten setzt sich, sicherlich zu unterschiedlichen Anteilen aus biologisch ererbten Grundmustern und deren kulturellen Überprägung zusammen, wobei die kulturelle Überprägung eine stark regulative Wirkung besitzt. Eine normative Kontrollkappe (Gesetze, gesellschaftliche Regeln, ggf. auch religiöse Regeln) ist auch hier notwendig.
d. In speziellen, insbesondere Stresssituationen kann sich das biologische Erbe dominant in den Vordergrund schieben (etwa Aggressivität). Eine normative Kontrollkappe ist sicherlich gerade auch hier notwenig, dennoch erscheint es gerade hier sinnvoll, auch, normativ kontrolliert „Dampf ablassen“ zu können.
Abbildung und Abbildungserläuterung aus Leinfelder [27]



Ausblick: Quo Vadis?


Die Menschheit hat sich durch die menschengemachte Klima- und Umweltkrise den größten Selektionsversuch selbst auferlegt. Das Sterben der Korallenriffe, steigender Meeresspiegel, veränderte Niederschlagsmuster, immense Überfischung und Verlust der genetischen Ressourcen können Milliarden von Menschen bedrohen. Auch zur Bewältigung dieser Krise bedarf es evolutionären Wissens. Zum einen sind Biodiversität, Evolution, Umwelt und Klima eng miteinander vernetzt. Hier gilt es insbesondere, die dynamischen Prozesse von Biodiversitätsänderungen besser erkennen und möglicherweise sogar vorhersagen zu können. Dabei ist das Verständnis auch heute ablaufender Evolutionsprozesse wesentlich, um Reaktionen der belebten Natur auf Klima- und Umweltänderungen sowie mögliche natürliche und kulturelle Anpassungswege prognostizieren und bewerten zu können. Zum anderen benötigen wir für die Bewältigung der Umweltkrise auch eine weitere kulturelle (R)evolution. Seit der Industrialisierung pumpt die Menschheit ungezügelt alle fossilen Energieträger wieder in die Atmosphäre zurück. Kohlendioxid, welches über mehrere hunderte Millionen von Jahren entzogen wurde, wird nun - geologisch gesehen – sozusagen auf einmal als CO2 wieder in die Atmosphäre zurückgeführt. Zusätzlich werden biologische Kohlenstoffspeicher, wie Wälder oder Moore durch uns selbst vernichtet. Der Mensch muss, um die Erde weiterhin auch für die nachfolgenden Generationen nutzen zu können, radikal umdenken. Dazu benötigen wir mehr denn je unseren kulturellen Verstand, für den die biologische Evolution unseres Gehirns die Grundlage geliefert hat: Vor etwa 2,5 Millionen Jahren begann der Urmensch einfachste Steinwerkzeuge zu verwenden, was ihn jedoch kulturell noch nicht sehr vom Tier unterschied. Die erste kulturelle Revolution des Jägers und Sammlers fand vor etwa 600.000 Jahren mit der Bearbeitung von Faustkeilen und Feuergebrauch statt. Vor etwa 10.000 Jahren v. Chr. begann die neolithische Revolution, die uns Ackerbau und Viehzucht sowie im Gefolge den Hausbau brachte. Seit etwa 8000 Jahren v.Chr. breiteten sich Stadtkulturen und mit ihnen das Handwerk und Dienstleistungen, also umfassende Arbeitsteilung aus. Im späten 18 und 19. Jahrhundert erfolgte die Industrielle Revolution. Bleibt nur zu hoffen, dass die nächste, notwendige (R)evolution, eine „Kohlenstoff-Abrüstung“ und mit ihr der Eintritt in ein „postkarbones“, nachhaltiges Industriezeitalter nicht mehr lange auf sich warten lässt [28].

Was nützt unser Wissen über die Evolutionsvorgänge, welche zu Biodiversitätsverlust führen, was nützt es, wenn wir über die Klimaprozesse Bescheid wissen und wissenschaftlich abgesicherte Wahrscheinlichkeitsszenarien zur klimatischen Entwicklung machen können, was nützt es, wenn wir sogar die richtigen Handlungsweisen und Technologien zur Vermeidung beschreiben können, aber diese nicht umsetzen können? Diese Umsetzung muss demokratisch geschehen, aber sie kann damit nur erreicht werden, wenn wir die Auswirkungen unseres Handeln auch über die Generationen hinweg verstehen und dies entsprechend berücksichtigen. Dieser hohe Anspruch kann nur mit Hilfe einer kulturellen Transformation erfüllt werden. Prinzipiell sollten wir dazu fähig sein. Der Mensch ist zwar biologisch ein Tier (bzw. chemisch ein Molekülcocktail), das ist jedoch nur eine Seite der Medaille. Der Mensch ist zusätzlich eben gerade auch ein Kulturwesen. Die berühmte Menschenaffenforscherin Jane Goodall brachte es zum Eingang des Darwin-Jahrs in einem Cicero-Interview auf den Punkt: „Die Sprache, mit der wir moralische Entscheidungen treffen können, macht uns zum Menschen. Damit überlassen wir uns nicht dem bloßen Instinkt. Es ist die Fähigkeit, diskutieren und über abstrakte Dinge sprechen zu können, die nicht real existieren, sondern vor unserem geistigen Auge stehen. Diese Befähigung ist es, durch die sich unser Intellekt so explosionsartig weiterentwickelt hat“ [29]. Und der leider noch vor dem Darwin-Jahr im August 2008 verstorbene Neurobiologe und Tierphysiologe Gerhard Neuweiler sieht im Menschen eben doch die Krone der Evolution. Allerdings gilt dies nur, wenn wir es auf die Komplexität unseres Gehirns und seiner Fähigkeiten beziehen, denn der Mensch kann weder ohne Hilfsmittel fliegen noch lange tauchen, viele Tiere hören und riechen besser, oder laufen schneller. Aber unser höchst erhobenes Körperteil erlaubte uns die kulturelle Evolution. Neuweiler schreibt: „Im Menschen emanzipiert sich die Evolution, denn er ist das einzige Lebewesen, das die Werkzeuge der natürlichen Evolution in die Hände nehmen und ihr eine eigene humane Welt entgegensetzen kann“ . [30]
Diese humane Welt hat nichts mit einem „Neo-Humanismus“ bzw. „evolutionären Humanismus“ der Szientisten und Biologisten zu tun, welche allen Ernstes als „erklärtes Ziel“ fordern, „den Eigennutz in den Dienst der Humanität zu stellen“. Außerdem soll man zwar nicht lügen, betrügen, stehlen oder töten, „es sei denn es gibt im Notfall keine anderen Möglichkeiten die Ideale der Humanität durchzusetzen.“ [31] Wenn zur Durchsetzung der Ideale eines „Neo-Humanismus“ davon gebraucht gemacht werden sollte, dann rette sich wer kann vor diesem Humanismus. (siehe Anm. 34)

Wie wunderbar hingegen, aus einer Stadt zu stammen und von einer Schule zu kommen, die sich echtem Humanismus verpflichtet fühlt. So wurde schon am 25. September 1555 im Augsburger Reichs- und Religionsfrieden folgendes festgelegt: „Setzen demnach, ordnen, wollen und gebieten, daß fernerhin niemand, welcher Würde, Standes oder Wesens er auch sei, den anderen befehden, bekriegen, fangen, überziehen, belagern, […] [möchte], sondern ein jeder den anderen mit rechter Freundschaft und christlicher Liebe entgegentreten soll“ [32]. Dies schließt sich im aktuellen Schulkonzept des Gymnasiums bei St. Anna, welches ich weiter oben auszugsweise zitiert habe und welches auf Humanismus, Bewusstsein über die Würde des Individuums, auf Notwendigkeit zur Erforschung der Welt, auf Offenheit, Achtung, Toleranz und Respekt des Anderen fokussiert. Hier finden sich Aristoteles, Charles Darwin, Albert Einstein, Jürgen Habermas und Hans Jonas gleichermaßen: Der biblische Auftrag, sich die Erde untertan zu machen schließt sich hier zum „Ökologische Imperativ“ von Hans Jonas (1979): „Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden“ [33]. Gerade als Naturwissenschaftler bin ich überzeugt, dass uns hier unser evolutionäres Erbe nicht weiterhelfen kann. Wir müssen hier gegen unseren biologisch-evolutionäres Eigennutz-Erbe handeln, denn biologische Evolution und biologisches Eigennutzverhalten können eben nicht weit vorausplanen. Unsere Welt weiter lebenswert zu machen und dabei über Generationen und über die eigenen Gene hinweg vorauszuschauen, ist eine kulturelle Herausforderung, in die unser gesamtes naturwissenschaftliches und kulturwissenschaftliches Wissen mit einfließen muss. Die Aufgabe kann nur gelingen, wenn Schulen wie das Gymnasium bei St. Anna hier die notwendigen Grundsteine legen.

> Zum gesamten Artikel: www.tinyurl.com/darwin-revolution (pdf 3 MB)

Oben verwendete Zitate:
  • 27 Leinfelder, R. R. (im Druck): Epilog: Darwins Erbe für die Zukunft, in: Charles Darwin Die Entstehung der Arten, mit zwei Beiträgen von Alfred Russel Wallace, illustriert, kommentiert und herausgegeben von Paul Wrede und Saskia Wrede, VCH- Wiley Weinheim.
  • 28 siehe hierzu auch: Schellnhuber, H.-J.,, Messner, D., Leggewie, C., Leinfelder, R.R., Nakicenovik, N., Rahmstorf, S., Schlacke, S., Schmid, J. & Schubert, R. (2009): Kassensturz für den Weltklimavertrag.- Sondergutachten, 58 S., Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung, Globale Umweltveränderungen (WBGU), Berlin. http://www.wbgu.de/wbgu_sn2009.html
  • 29 http://www.cicero.de/97.php?ress_id=7&item=3057
  • 30 Neuweiler, G. (2008): Und wir sind es doch - die Krone der Evolution. 253 S., Wagenbach-Verlag, Berlin.
  • 31 Schmidt-Salomon, M. (2006): Manifest des evolutionären Humanismus: Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. 196 S., Alibri-Verlag, Aschaffenburg (für die Giordano Bruno-Stiftung).
  • 32 Fide http://de.wikipedia.org/wiki/Augsburger_Reichs-_und_Religionsfrieden , Stand 17.7.2009
  • 33 Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt/M., 1979. Neuauflage als Suhrkamp Taschenbuch, 1984
  • 34 Anm.: Dies ist keine Pauschalkritik an der evolutionären Psychologie bzw. der Soziobiologie, siehe hierzu die Diskussion im Gesamtartikel sowie Abbildung oben. Die Anteile des biologischen Erbes, auch des biologischen Eigennutzfaktors zu verstehen, um alle Verhaltensaspekte des Menschen insgesamt besser zu verstehen ist jedoch etwas völlig anderes, als eine biologistische, gar noch als "evolutionär-humanistisch" bezeichnete Weltanschauung darauf zu gründen.

Sonntag, 20. Dezember 2009

Der Minimalkompromiss von Kopenhagen - Presseerklärung des WBGU


Da wir in diesem Blog auch auf die Kopenhagen-Konferenz eingingen, nachfolgend die Bewertung des Konferenzergebnisses durch den Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)

P R E S S E E R K L Ä R U N G DES WBGU

Der Minimalkompromiss von Kopenhagen:

EIN ZIEL – ABER NOCH KEIN WEG

Berlin/Kopenhagen, den 20. Dezember 2009. Der Klimagipfel von Kopenhagen ist weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Einziges substanzielles Ergebnis war eine Erklärung („Copenhagen Accord“), die von den Regierungschefs der wichtigsten Länder ausgearbeitet und von der ganzen Staatengemeinschaft lediglich „zur Kenntnis genommen“ wurde. Es gab weder den erhofften Aufbruch zu neuen Formen der globalen Zusammenarbeit noch verbindliche internationale Verpflichtungen zur Treibhausgasreduzierung - ganz zu schweigen von Weichenstellungen für den Übergang zu einer klimaverträglichen Weltwirtschaft. Die Europäische Union und die Bundesrepublik konnten sich trotz ernsthafter Bemühungen nicht mit ihren Forderungen nach einem anspruchsvollen Klimaabkommen durchsetzen.

Am Ende des zweiwöchigen Gipfelmarathons steht als einziger Lichtblick eine verklausulierte Anerkennung der 2 Grad Celsius-Leitplanke als Richtschnur aller Klimaschutzbemühungen. Hans Joachim Schellnhuber, der Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) bezeichnet dieses Ergebnis als „einen tragischen Triumph der Wissenschaft. Die von der Klimaforschung empfohlene Obergrenze für die globale Erwärmung wird einerseits endlich übernommen, andererseits finden die tatsächlich notwendigen Maßnahmen zur Beachtung der Leitplanke (insbesondere Reduzierung der globalen Emissionen um deutlich mehr als 50 % bis 2050) keine Erwähnung. Insofern gibt es ein Ziel, aber die Wege dorthin bleiben noch im Dunkeln“.

Was fehlt

Die Erklärung von Kopenhagen betont zwar die Notwendigkeit, rasch Treibhausgasminderungen einzuleiten, setzt dabei aber ausschließlich auf freiwillige Beiträge zum Klimaschutz, die die Staaten bis zum 1. Februar 2010 konkretisieren sollen. Dazu Schellnhuber: “Dieses Klingelbeutelprinzip, nach dem jeder gibt, was er für angemessen hält, hat schon vor Kopenhagen keine hinreichenden Ergebnisse erbracht. Summiert man die derzeit vorliegenden Klimaschutzangebote aller Staaten auf, dann bewegen wir uns auf eine 3-4-Grad-Welt mit kaum beherrschbaren Risiken zu.“ Daraus folgt, dass die Staaten in den Klimaverhandlungen 2010 kräftig nachlegen müssen, wenn ein gefährlicher Klimawandel noch abgewendet werden soll. Der WBGU unterstützt ausdrücklich die Forderungen von Kanzlerin Merkel und Umweltminister Röttgen, jetzt gerade die nationalen und internationalen Bemühungen um Klima- und Energiesicherheit zu verstärken.

In Kopenhagen wurde wertvolle Zeit für den Klimaschutz verspielt. Eine nüchterne wissenschaftliche Analyse zeigt, dass die globale Trendumkehr bei den Treibhausgasemissionen zwischen 2015 und 2020 geschafft sein muss – ansonsten bleiben kaum noch realistische Chancen, die 2-Grad-Linie zu halten. Dirk Messner, stellvertretender Vorsitzender des WBGU, meint: "Der bisherige Verhandlungsmodus rettet das Klima nicht. Selbst die zahlreich erschienenen Staats- und Regierungschefs konnten die Verhandlungsblockade nicht überwinden. Ohne erneute klimapolitische Kraftanstrengungen besteht die Gefahr, dass die Verhandlungen im kommenden Jahr im Schneckentempo weiterlaufen. Im schlimmsten Fall zerfiele die Welt in Interessensgruppen, die im Klimaschutz eigene Wege gehen. Deshalb ist 2010 ein Neustart in der internationalen Klimapolitik notwendig."

Was zu tun ist

Aus Sicht des WBGU sollten die Bundesregierung und die Europäische Union nun in zwei Richtungen agieren: Einerseits gilt es, Bündnispartner zusammenzuführen, um nächstes Jahr doch noch ein anspruchsvolles Klimaabkommen zustande zu bringen. Als Grundlage für diese Verhandlungen könnte der vom WBGU vorgeschlagene Budgetansatz dienen, ein einfaches, transparentes und gerechtes Konzept zur internationalen Lastenteilung für den Klimaschutz. Chinesische,japanische und indische Klimaberater hatten in Kopenhagen verwandte Ansätze vorgelegt. Der Kerngedanke des Konzeptes besteht darin, ein mit der 2 Grad-Leitplanke verträgliches globales Treibhausgasbudget zu bestimmen und dieses auf der Grundlage gleicher Emissionsrechte für alle Menschen auf nationale „kumulative Kohlenstoffkredite“ herunterzubrechen. Hochemissions- und Niedrigemissionsländer würden bei diesem Ansatz Verschmutzungsrechte gegen Klimatechnologien und Finanztransfers handeln um Spielräume über die Nationalbudgets hinaus zu schaffen. Der Ansatz verbindet ökonomische Effizienz mit einer globalen Entwicklungspartnerschaft und nimmt zugleich alle Staaten, auch die Schwellenländer, in die klimapolitische Verantwortung. Der WBGU argumentiert: „Gerade nach den enttäuschenden Ergebnissen von Kopenhagen müssen neuartige und operationalisierbare Ansätze auf die Verhandlungstische.“

Anderseits müssen nun – gerade wegen des drohenden Schwebezustandes in der internationalen Klimadiplomatie – Nachhaltigkeitsinitiativen von unten verstärkt werden, um den Übergang in eine klimaverträgliche Weltwirtschaft zu beschleunigen. Deutschland und Europa sollten in öffentlich-privaten Allianzen ihre Forschungsanstrengungen und Investitionen hinsichtlich erneuerbarer Energien und klimaverträglicher Mobilitätskonzepte massiv erhöhen. Europäische Städte könnten beispielsweise in internationalen Partnerschaften klimaverträgliche Stadtentwicklungen vorantreiben, insbesondere mit Vorreitern wie Sao Paolo oder Seattle, die bereits anspruchsvolle Klimaziele formuliert haben. Die europäische Entwicklungspolitik sollte klimaverträgliches Wirtschaften zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen. Technologie-, innovations- und energieorientierte Klimapartnerschaften mit China, Indien und anderen Schwellenländern könnten forciert werden. Aus Sicht des WBGU sollten auch die Zivilgesellschaft und die Wirtschaft ihren Druck für eine ehrgeizige und verbindliche globale Klimapolitik aufrechterhalten und
damit vor allem die verantwortungsbewussten Regierungen unterstützen. Der WBGU sieht Chancen, auf diesem Weg ein grenzüberschreitendes regionales und globales Netzwerk „klimapolitischer Vernunft“ zu schaffen, in dem öffentliche und private Akteure die Weichenstellungen vorantreiben, zu denen sich die Staats- und Regierungschefs in Kopenhagen nicht durchringen konnten.

Rückfragen an: wbgu@wbgu.de oder 030-26394812.
Website des WBGU www.wbgu.de (mit herunterladbaren Materialien, u.a. Sondergutachten zum Budgetansatz, Fact Sheets zur 2-Grad-Leitplanke sowie zum Budgetansatz etc.

Dienstag, 8. Dezember 2009

Klima als Selektionsfaktor - ein Interview zu Kopenhagen

Klima sucht Schutz

Drei Fragen zum Klimagipfel in Kopenhagen. Beantwortet von Reinhold Leinfelder
Aus www.klima-sucht-schutz.de vom 6.12.09:



1. Welcher Aspekt des Klimawandels wird bei der öffentlichen Diskussion in 
Deutschland bisher vernachlässigt?

Noch sehr wenig öffentlich berücksichtigt ist die enge Verbindung zwischen Biosphäre und Klima. So verschieben sich Ökosysteme bei Klimaerwärmung nicht einfach weiter polwärts oder in größere Höhen, sondern es kann zu einem kompletten Umbau kommen. Des Weiteren werden kumulative Effekte und "Kippelement-Reaktionen" zunehmen. Dies bedeutet, dass bei Erreichen eines bestimmten klimatischen Schwellenpunkts ganze Kaskaden von irreversiblen und sehr raschen Änderungen auftreten können – der berühmte letzte Tropfen bring das Fass zum Überlaufen. 

Ein Beispiel sei genannt: Gesunde Korallenriffe vertragen ohne weiteres eine vorübergehende Überhitzung des Wassers, sie werden zwar geschädigt, aber erholen sich davon. Andere, die bereits an Übersäuerung – auch ein Klimaeffekt –, Überdüngung oder Überfischung leiden, können beim selben kleinen Überhitzungsereignis komplett kollabieren. Auch gesunde Riffe können kollabieren, wenn die Überhitzungsereignisse einfach zu oft auftreten und die Regenerationszeiten dazwischen zu kurz werden. Die umfassenden Ökosystemgüter und -dienstleistungen der Korallenriffe für die Menschen sind natürlich davon betroffen – neuere Arbeiten gehen von einem ökonomischen Nutzen der Korallenriffe von ca. 270 Milliarden Euro pro Jahr aus. Umso wichtiger ist es, jetzt endlich zu einer umfassenden Reduktion des anthropogenen CO2 zu kommen, um das 2 °C-Ziel einzuhalten.


2. Was wäre aus Ihrer Sicht die wirkungsvollste Klimaschutzmaßnahme auf internationaler Ebene? 



Die atmosphärische CO2-Wanne ist schon sehr voll, aber der Abfluss ist viel kleiner als der Zulauf, deshalb muss dieser Zulauf ganz stark zurückgedreht werden. An der umfassenden Reduktion von anthropogenem CO2 führt kein Weg vorbei, denn CO2 akkumuliert wegen seiner langen Verweildauer in der Atmosphäre über hunderte und tausende von Jahren. Hierzu müsste eine völkerrechtlich verbindliche Vereinbarung zur Einhaltung des 2-Grad-Temperaturziels sowie ein einfacher, transparenter und gerechter Verteilungs- und Handelsmechanismus, etwa wie ihn der WBGU vor kurzem vorgeschlagen hat.

Außerdem müssen eventuelle Schlupflöcher gestopft werden. Deshalb sollte sich der Emissionshandel auf fossiles CO2 beschränken. Es ist schon eine gute Idee, dass auch Gelder an arme Länder fließen können, wenn diese keine Wälder mehr abholzen. Die REDD-Regelung (Reduktion von Emissionen aus Entwaldung und Schädigung von Wäldern) soll dies gewährleisten, nur ist bei Gegenverrechnung mit fossilem CO2 Missbrauchsgefahr gegeben. Man könnte nämlich einige Waldgebiete unter REDD-Schutz stellen, dafür Gelder kassieren, aber die ungeschützten Wälder drumherum abholzen, das wäre eine klassische Milchmädchenrechnung. Auch dürfen keine Länder die Leidtragenden sein, die bislang schon, wie etwa Costa Rica deutlich mehr Wälder unter Schutz gestellt haben und deshalb von den neuen Regelungen gar nicht mehr profitieren könnten.

Auch andere Querverrechnungen, etwa durch Reduktion anderer Treibhausgase, oder durch Berücksichtigung früher nicht verwendeter Emissionsanteile sollten nicht möglich gemacht werden. Zwar ist es notwendig, auch Methan, Lachgas und andere Treibhausgase zu reduzieren, wegen der Kurzlebigkeit etwa von Methan, ist der Effekt jedoch langfristig wesentlich geringer als bei der Reduktion von CO2, weshalb man hier nicht mit CO2-Äquivalenten rechnen sollte. Wie "kreativ" die Schlupflochsuche ist, zeigt ein weiterer Vorschlag Indonesiens, doch nationale Meeresflächen der Länder als CO2-Senken anerkennen zu lassen und dies in den CO2-Budgethandel mit einbauen zu können.



3. Ich glaube nicht an wirkungsvolle Ergebnisse des Gipfels, weil...

...es momentan mit Kopenhagen nicht sehr gut aussieht. Aber vielleicht ist die derzeitige Situation auch eine Chance, allerdings nur, wenn Schlüsselländer wie USA, China, Indien und natürlich die EU-Vertreter wirklich mit ihren Spitzen nach Kopenhagen kommen, und doch mehr im Koffer haben, als sie derzeit aus taktischen Gründen vielleicht zugeben. Eine verbindliche Vereinbarung zum 2-Grad-Ziel wäre ein großer Durchbruch, und könnte als Zielvorgabe ermöglichen, in Nachverhandlungen ein gerechtes, transparentes und einfaches Regelwerk auszuhandeln.

Befürchtungen wecken aber auch die nun stark zunehmenden Diskussionen auch von Seiten mancher technologisch orientierten Wissenschaftler, ob denn das 2-Grad-Ziel wirklich so wichtig sei bzw. überhaupt noch umzusetzen sei. Maßnahmen des Geoengineerings, etwa das dauerhafte Einbringen von Schwefelartikeln oder Spiegelflittern in die Atmosphäre zur Reduzierung der Sonneneinstrahlung auf der Erde werden genannt, aber auch die Forderung nach Akzeptieren der Klimaänderung, woraus sich nun zu fördernde technologische Anpassungsmöglichkeit durch Höherverlagerung von Dämmen, schwimmenden Städten, gentechnisch dominierter Welternährung etc. ergäbe. Derartige Vorstöße könnten in einem gefährlichen Relativismus bzw. einer falschen Technologiegläubigkeit resultieren.
Um nicht missverstanden zu werden: um gewisse Anpassungsmaßnahmen werden wir nicht herum kommen, auch 2 Grad (gemittelte) globale Temperaturerhöhung macht dies nötig. Aber Anpassungen allein werden nicht ausreichen, Vermeidungen von anthropogenem CO2-Ausstoß und damit der Aufbruch in ein überwiegend "postkarbones" Zeitalter müssen nun endlich eingeläutet werden.

Prof. Dr. Reinhold Leinfelder ist Geologe, Geobiologe und Paläontologe, in seinen aktuellen Forschungen beschäftigt er sich schwerpunktmäßig mit Riffen, Umweltveränderungen und neuen Methoden des Wissenstransfers. Seit 2006 steht er dem Museum für Naturkunde in Berlin als Generaldirektor vor. Er ist Vorsitzender des Konsortiums "Deutsche Naturwissenschaftliche Forschungssammlungen", Gründungsmitglied des Geo-Bio-Zentrums an der Universität München sowie Korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2008 gehört er dem Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) an.


Der Webdienst Klima sucht Schutz ist vom Bundesumweltministerium gefördert und bietet unter anderem ein Themenspezial zum Klimagipfel in Kopenhagen, Kurzinformationen zum Klimawandel, umfassende Energiespartipps, sowie Anregungen für Mitmachprojekte.
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Adam, Eva und die Evolution - Kreationismus auf dem Vormarsch

Der SWR produzierte einen aktuellen Beitrag zum Thema Kreationismus, welcher am 19. und 21.11.2009 ausgestrahlt wurde und am 26.11. sowie 3.12.09 vom WDR übernommen wurde.

Der Beitrag ist auf www.planet-schule.de eingestellt und dort folgendermaßen anmoderiert:

"Der Mensch als Krone der Schöpfung, von Gott vor ungefähr 6000 Jahren erschaffen oder das Produkt von Millionen Jahren Evolution? Kreationisten glauben an die Wahrheit der biblischen Schöpfungsgeschichte und lehnen die Evolutionstheorie ab. In den USA pilgern sie ins "Creation Museum", wo sie ihre Sicht vom Anfang des Lebens bestätigt sehen. In Deutschland bezieht vor allem die Studiengemeinschaft Wort und Wissen Stellung gegen die gängige Lehrmeinung. Christliche Bekenntnisschulen gestalten den Biologieunterricht evolutionskritisch. Warum wird dieses Thema auch noch 150 Jahre nach Charles Darwins "Entstehung der Arten" so kontrovers diskutiert? An Schauplätzen in Deutschland, Nordamerika und dem Vatikan, beleuchten wir die aktuelle Diskussion pro und contra Evolution, sprechen mit Evolutionsgegnern, Wissenschaftlern und Theologen."
> zum Beitrag

Der Film ist außerdem, in drei Teilen, in youtube abrufbar. Siehe nachfolgende Verlinkungen:

Teil 1:



Teil 2:



Teil 3:



Wer also nicht auf der Podiumsdiskussion zwischen Wissenschaftlern und Kreationisten in Stuttgart dabei war und dennoch wissen will, wie Kreationisten argumentieren, sollte sich diesen Film ansehen.
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Und hier noch ein weiterer TV-Tipp, ebenfalls auf planet-schule.de hinterlegt:
Darwins Erben, gesendet wiederum auf SWR und WDR zwischen 12.11. und 2.12.2009:

Anmoderation aus www.planet-schule.de:
"Charles Darwin, eine Ikone der Wissenschaft, ist längst ein Fall fürs Museum. 200 Jahre nach seinem Geburtstag und 150 Jahre nach seinem Werk über die "Entstehung der Arten" machen sich zwei Forscher aus dem Naturkundemuseum in Berlin auf die Spuren seiner Arbeit. Auf Sulawesi -eine der vielen Inseln Indonesiens - versuchen sie herauszufinden, wie einzelne Tier- und Pflanzenarten entstehen. Der 30-minütige Film zeigt an Beispielen die teilweise mühselige Arbeit der Wissenschaftler und ermöglicht so einen Einblick in aktuelle Forschung. Dabei werden die einzelnen Sequenzen filmisch immer wieder verwoben mit Darwins seinerzeit bahnbrechenden Erkenntnissen."
>> zum Film



Viel Spaß,

Ihr
Reinhold Leinfelder

Freitag, 27. November 2009

Charles Darwin und das Insekt des Jahres 2010

von Reinhold Leinfelder

So unbekannt vielen vielleicht das Insekt des Jahres 2010 ist, für Charles Darwin war es bereits ein faszinierendes "Geschöpf". Aber der Reihe nach:

Gestern wurde im Museum für Naturkunde Berlin der Ameisenlöwe zum Insekt des Jahres 2010 gekürt. Die Wahl zum Insekt des Jahres ist eine Kooperation zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Schirmherrschaft hat Dr. Johannes Hahn, Österreichischer Bundesminister für Wissenschaft und Forschung (Wien) übernommen. Das Insekt des Jahres wurde das zwölfte Mal proklamiert und soll auf diese besondere Tiergruppe hinweisen, die in der Bevölkerung häufig nur als lästig, z.B. Wanzen und Mücken, und nur in wenigen Fällen als schön empfunden wird, nämlich Schmetterlinge. Insekten sind die größte Tiergruppe überhaupt. Schätzungen gehen davon aus, dass über 80 % aller Tiere Insekten sind.

Aus der Pressemeldung vom 27.11.09:

Versteckter Räuber: Ameisenlöwe Insekt des Jahres

Berlin (dpa) - Ein winziger Räuber kommt ganz groß heraus: Der Ameisenlöwe ist das Insekt des Jahres 2010. Menschen bekommen den nur etwa 17 Millimeter kleinen Jäger kaum je zu Gesicht. Und wenn die Beute, meist Ameisen und andere kleine Tiere, dem Insekt zu nahe kommt, ist es schon zu spät.

Dann schnappt der Ameisenlöwe in dem Sandtrichter, den er sich geschaufelt hat und in dem er sich versteckt, mit seinen Zangen unerbittlich zu. Gleichzeitig injiziert er ein lähmendes Gift in sein Opfer. Trotz dieser raffinierten und erfolgreichen Fangmethode ist der Ameisenlöwe europaweit stark in seinem Bestand gefährdet, wie das Kuratorium «Insekt des Jahres» am Freitag in Berlin mitteilte.

Die tückische Stärke des Insekts ist es, dass es sich binnen Sekunden rückwärts in Sand eingraben kann. Dort wartet das Tier darauf, dass seine Nahrung in den meist steil angelegten Sandtrichter fällt, aus dem es dann kein Entkommen mehr gibt. Die Neigung ist so steil, dass ein Fluchtversuch oft nur damit endet, dass die Beute noch tiefer hineinrutscht in den Schlund. (> weiterlesen)

Charles Darwin und der Ameisenlöwe:

Weniger bekannt ist, dass Charles Darwin ebenfalls vom Ameisenlöwen fasziniert war. Insbesondere, als er im Januar 1836 in Australien das ihm von England gut bekannte Insekt fand, gleichzeitig aber auch ihm sehr fremdartig erscheinende Tiere, wie das Schnabeltier beobachtete, ging er - damals noch ziemlich vom physikotheologischen Schöpfungsglauben geprägt - von einer Schöpfung Gottes aus und diskutierte sogar eine doppelte Schöpfung. So schrieb er in seinem Tagebuch für den 19. Januar 1836:

"...I had been lying on a sunny bank & was reflecting on the strange character of the animals of this country compared to the rest of the World. An unbeliever in everything beyond his own reason might exclaim, "Surely two distinct Creators must have been at work; their object is the same & certainly the end in each case is complete". Whilst thus thinking, I observed the conical pitfall of a Lion-Ant:- a fly fell in & immediately disappeared; then came a large but unwary Ant. His struggles to escape being very violent, the little jets of sand described by Kirby (Vol. I. p. 425) were promptly directed against him.- His fate however, was better than that of the fly's. Without doubt the predaecious Larva belongs to the same genus but to a different species from the [European] kind.- Now what would the Disbeliever say to this? Would any two workmen ever hit on so beautiful, so simple, & yet so artificial a contrivance? It cannot be thought so. The one hand has surely worked throughout the universe. A Geologist perhaps would suggest that the periods of Creation have been distinct & remote the one from the other; that the Creator rested from his labor." (> Quelle)

In der gedruckten Form erschien dies 1839. In der darauf basierenden deutschen Ausgabe von 1844 (Charles Darwin's naturwissenschaftliche Reisen, übersetzt von Ernst Dieffenbach, Erster Theil, Verlag Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig) heißt dies dann so, man beachte die leicht unterschiedlichen weltanschaulichen Passagen:



Interessanterweise wurde diese Passage in späteren Auflagen in eine Annotation verbannt und auch teilweise geändert. So lautet dieser Text in der 2009 erschienenen Neuübersetzung, welche auf der 1845 erschienenen 2. englischen Auflage basiert (Charles Darwin, die Fahrt der Beagle, mit einer Einleitung von Daniel Kehlmann, Deutsch von Eike Schönfeld, Fischer Taschenbuch Verlag) folgendermaßen (Annotation 5, 19. Kap.):

"Interessanterweise fand ich hier die hohle, konische Fallgrube des Ameisenlöwen oder eines anderen Insekts; erst rutschte eine Fliege den tückischen Hang hinab und verschwand sogleich, dann kam eine große, aber arglose Ameise; da ihr Kampf ums Entrinnen sehr heftig war, wurden jene eigenartigen kleinen Sandstrahlen, die Kirby und Spence beschrieben haben (Entomology, Bd. I, S.425) und die vom Schwanz des Insekts geworfen werden, prompt auf das erwartete Opfer gerichtet. Doch der Ameise wurde ein besseres Schicksal zuteil als der Fliege; sie entkam den tödlichen Fängen, welche am Grund der konischen Höhlung verborgen lagen. Diese australische Fallgrube war nur ungefähr halb so groß wie jene des europäischen Ameisenlöwen."

Hier ließ Darwin also sämtliche weltanschaulich-religiösen Anmerkungen weg und beschränkte sich auf die naturwissenschaftliche Analyse.

Schon 1836 hat also Charles Darwin die Mission des Insekt des Jahres 2010 vorweggenommen und auf dieses interessante Insekt (genauer: Insektenlarve, das erwachsene Insekt heißt Ameisenjungfer) hingewiesen.

Donnerstag, 26. November 2009

Design ohne Designer? Ein Bericht zu einer Podiumsdiskussion

Gastbeitrag von Hansjörg Hemminger:

Podiumsdiskussion „Design ohne Designer?“ am 24. November 2009 im Staatlichen Museum für Naturkunde Stuttgart

Bericht: Hansjörg Hemminger

Die Podiumsdiskussion im Stuttgarter Schloss Rosenstein 150 Jahre nach Erscheinen von Darwins Hauptwerk „On the Origin of Species…“ hatte einen passenden Rahmen. Dort befindet sich die Ausstellung „Der Fluss des Lebens“, in der Darwins Werk und die heutige Evolutionstheorie vorgestellt werden [1]. Unter dem an der Decke aufgehängten Modell eines Finnwals versammelten sich neun Diskutanten und mehrere hundert Zuhörerinnen und Zuhörer, für die der Saal schnell zu klein wurde. Professor Martin Blum (Universität Hohenheim) eröffnete die Diskussion mit einem Überblick über die Erfolgsgeschichte der Evolutionstheorie seit Darwin und stellte klar, dass er (anders als die Vertreter eines „intelligenten Designs“ und einige darwinistische Extremisten) diese Geschichte nicht als einen Angriff auf religiöse Überzeugungen wahrnehmen könne. Er zitierte den Christen und ehemaligen Leiter den „Human Genome Projects“ Francis Collins mit dem Wort, dass es keine seriösen biologischen Forscher mehr gebe, die Zweifel an der Evolutionstheorie hätten. Für „intelligentes Design“ (ID) eröffnete Dr. Douglas Axe vom „Biologic Institute“, das Teil des „Discovery Institutes“ in Seattle ist, die Debatte. Er berief sich auf die nach seiner Ansicht bewiesene Tatsache, dass „funktionale Information“ ein Merkmal des Lebens sei, und dass funktionale Information nur von Intelligenz produziert werde. Dieses Argument entwickelte er während der Diskussion weiter, ohne auf Gegenargumente zu antworten oder sie auch nur zu beachten. Dabei stützte er sich auf ein Werk von Stephen C. Meyer, dem Mitgründer des Discovery Institutes: Signature in the Cell - DNA and the Evidence for Intelligent Design (2009). Auch in der folgenden Diskussion war lediglich „intelligent design“ Gegenstand, der Kurzzeit-Kreationismus wurde nicht angesprochen, obwohl mit Dr. Reinhard Junker von „Wort und Wissen“ ein Vertreter auf dem Podium saß. Junker nutzte die Chance, die ihm das Ausbleiben kritischer Fragen nach der Position von „Wort und Wissen“ bot, und äußerte sich vor allem zu Fachthemen, indem er für ein „intelligentes Design“ der Bakterienflagelle argumentierte und die so genannte „kambrische Explosion“ in der Paläontologie als ein Problem für die Evolutionstheorie darstellte. Ausgerechnet er, der eigentlich kein Vertreter des ID ist, ließ als Einziger erkennen, dass er wissenschaftliche Gegenargumente wahrnimmt und sie zu bearbeiten sucht. Auch sein Detailwissen hob sich von den Allgemeinheiten ab, die ansonsten für ID ins Feld geführt wurden, machte seine Beiträge für das Publikum aber schwer verständlich. Der Genetiker Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig wiederholte demgegenüber lediglich die Argumente für ID, die er in großer Breite im Internet anbietet. Da er oberflächlich an die Evolutionstheorie anknüpft, ohne wirklich auf sie einzugehen, wirkte er von allen Vertretern des ID am plausibelsten auf das nur zum Teil fachkundige Publikum. Sein besonderer Stil ist das Aneinanderreihen von scheinbar beweiskräftigen Zitaten. Was in einem langen Internet-Text überzogen oder sogar lächerlich wirkt, nämlich ein „Beweis durch Autorität“, kam in Stuttgart gut an – schon deswegen, weil niemand nachprüfen konnte, was die zitierten Autoritäten (darunter Charles Darwin selbst) gesagt hatten oder hatten sagen wollen. Lönnig dominierte die ID-Seite der Debatte, auch weil Markus Rammerstorfer (Linz) nicht viel beizutragen hatte. Obwohl der Moderator Stefan Zibulla ihm eine unfreiwillige Steilvorlage lieferte, indem er den menschlichen Blinddarm als Beispiel für Dysteleologie (Flickschusterei, unintelligentes Design von Merkmalen) einführte, entwickelte Rammerstorfer kein eigenes Argument. Seine Entgegnung lief darauf hinaus, dass man wie im Fall des Blinddarms (der in der Tat eine Funktion in der Immunabwehr und bei der Erhaltung der Darmflora hat) irgendwann schon einsehen werde, dass das scheinbar Unzweckmäßige an vielen biologischen Merkmalen doch funktional sei. Danach verschwand er aus der Debatte. Die wurde auf wissenschaftlicher Seite von dem Bemühen bestimmt, die Leistungen und die verbliebenen Fragen der Forschung fair darzustellen. Dr. Jürgen Kriwet behandelte das Thema der chemischen Evolution, also den Übergang von abiotischen zu biotischen Strukturen, mit der Schilderung der zahlreichen Modelle, die es dafür inzwischen gibt, aber auch mit einem Hinweis auf die schwache Datenlage, was die tatsächlichen Randbedingungen der chemischen Evolution auf der frühen Erde angeht. Dr. Michael Maisch schilderte die Methodik der Paläontologie am Beispiel der kambrischen Radiation, die Schwierigkeiten ebenso wie die großen Erfolge seit Darwins Zeit. Er betonte, dass Darwins Problem der fehlenden „missing links“ längst keines mehr sei und erwähnte – unter dem Modell des Finnwals sitzend – als Beispiel die nahezu vollständig fossil belegte Evolution der Wale. Danach äußerte sich Professor Martin Blum zu den eindrucksvollen Erfolgen der evolutionären Entwicklungsbiologie (Evo-Devo) und griff das Beispiel der Lichtsinnesorgane auf, deren Entwicklung im gesamten Tierreich und darüber hinaus von einer homologen genetischen Regulation abhängt.

Es war typisch für die Diskussion, dass weder die geschilderten Fortschritte der Paläontologie, noch die der kausalen Evolutionstheorie an den Argumenten für ID etwas änderten. Das Kameraauge wird seit Darwin als ein klassisches Beispiel für komplexe Funktionalität in der Biologie und als Argument für „Design“ benutzt. Dass wir heute relativ gut wissen, wie selbst das Linsenauge der Säugetiere durch zunehmend komplexe ontogenetische Prozesse in der Evolution zustande kam, entkräftet die Kritik angeblich nicht. Dann hat der „Designer“, so die Taktik, eben denselben entwicklungsgenetischen Werkzeugkasten immer wieder dafür benutzt, Augen zu konstruieren. Ebenso ändern immer neue, paläontologisch hervorragend belegte Evolutionslinien nichts an dem Argument, ein „Designer“ habe dabei die Hand im Spiel. Dr. Hansjörg Hemminger griff das ID-Standardargument der nichtreduzierbaren Komplexität (zum Beispiel der Bakteriengeißel) auf. Sie besteht aus mehreren Elementen, die alle vorhanden sein müssen, damit die Funktion nicht ausfällt. Dass jedoch die fertige Struktur auf alle funktionalen Elemente angewiesen ist, sagt nichts darüber aus, wie sie zustande kam. Man muss den Prozess kennen, durch den die Geißel entstand, um etwas über dessen Wahrscheinlichkeit sagen zu können. Modelle dafür gibt es bereits [2]. Der Trick der ID-Literatur besteht darin, einen unwahrscheinlichen Prozess so darzustellen, als sei er der einzig mögliche, und ihn dann zu widerlegen. Dr. Axe demonstrierte diesen Trick unfreiwillig, indem er berichtete, dass man in seinem Institut die menschliche Sprache als Modell dafür benutze, „funktionale Information“ im Genom zu messen. Abgesehen davon, dass er eine Definition dieser Art Information schuldig blieb, und für seine quantitativen Aussagen Bits benutzte, die sicherlich nichts Funktionales messen, ist die menschliche Sprache aus vielen Gründen ein denkbar schlechtes Modell für genetische Information. Sie ist weit weniger redundant als das Genom, sie ist viel lage- und kontextspezifischer, und ungerichtete Änderungen sind fast nie bedeutungsneutral. Im Genom höherer Lebewesen ist das jedoch die große Mehrheit. Kein Wunder, dass man mit dieser falschen Analogie zu falschen Ergebnissen kommt. Aber Dr. Axe demonstrierte auch, dass es dem Discovery Institute auf Wissenschaft nicht ankommt. Seine Argumente sind pure Scheinwissenschaft, sie dienen dem medialen und politischen Schaulaufen, sie sind Waffen im Kulturkampf der USA zwischen „Liberals“ und „Conservatives“. Zum Glück, so muss man sagen, wirkten sie deshalb in Schloss Rosenstein belanglos.

Zurück zur Naturwissenschaft: Dr. Mike Thiv nahm aus der Sicht eines Botanikers zur Frage der Dysteleologie Stellung, und zum Schluss äußerte sich nochmals Dr. Hansjörg Hemminger zur Grundsatzfrage des „methodischen Naturalismus“. Dieser beruht auf dreiGrundannahmen über die Natur, nämlich dass es überhaupt eine Realität der Natur außerhalb unseres Bewusstseins gibt (hypothetischer Realismus), dass in ihr regelhafte Beziehungen von Ursache und Wirkung herrschen (kausale Ordnung), und dass diese Ordnung in Raum und Zeit überall gilt, also keine räumlichen und zeitlichen Grenzen hat (Kontinuität). Diese Grundannahmen sind nicht naturwissenschaftlich beweisbar, sie sind die Voraussetzung jedes Beweises und deshalb so etwas wie eine „minimalistische Metaphysik“. Diese ist aber alles andere als willkürlich. Deswegen ist es ein Missgriff, metaphysische Erklärungen für das Wesen der Welt in eine biologische Theorie einbauen zu wollen. Der „intelligente Designer“ von außen ist ein solcher Missgriff. Damit wird die Naturwissenschaft nicht erweitert, sondern verhindert. Sie verliert die methodische und logische Grundlage und damit ihre Konsensfähigkeit. Dem widersprach besonders Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig vehement und bezeichnete es als ideologische Einengung des Denkens, wenn man Intelligenz als Ursache biologischer Phänomene ausschließen wolle. An diesem Punkt zeigte sich die Schwierigkeit besonders deutlich, komplizierte Sachfragen mit streng kontrollierten Minuten-Statements auf einem so großen Podium abzuhandeln. Es war zwar möglich, Lönnig zu entgegnen, dass nicht die Ursache „Intelligenz“ an sich ausgeschlossen werde, sondern die transzendente, supranaturale Intelligenz, und auch nicht aus dem Weltbild, sondern lediglich aus der biologischen Theorienbildung. Aber dieser zentrale Kritikpunkt an ID ließ sich nicht wirklich entfalten, obwohl Professor Martin Blum pointiert darauf hinwies, dass eine immanente Intelligenz als Faktor der kausalen Evolution selbstverständlich berücksichtigt würde, sollten die ID-Vertreter irgendwann eine Hypothese vorbringen, wo und wie man diese Intelligent bzw. ihre Effekte empirisch zu untersuchen habe. Ohne eine solche Hypothese sei die ID-Vorstellung wissenschaftlich leer, und alle Beweise aus Nichtwissen, um die sich ID bemühe, gingen ins Leere. Verständlicherweise behaupteten alle ID-Vertreter, ihr Ansatz sei wissenschaftlich fruchtbar, konnten aber außerhalb ihrer Kritik an evolutionsbiologischen Modellen nicht einmal den Anschein eigener Modelle vorweisen.

Das Fazit der Veranstaltung war für den Berichterstatter zwiespältig: Positiv ist hervorzuheben, dass der Ton sachlich blieb, und persönliche Angriffe vermieden wurden. Nur Dr. Wolf-Ekkehard Lönnig fiel mit der Behauptung auf, es habe Störungs- und Verhinderungsversuche von Evolutionisten und Atheisten gegeben. Dem widersprach die Direktorin des Museums, Frau Professor Eder: Es habe zwar Kritik an der Veranstaltung im Internet gegeben. Aber dass jemand eine kritische Meinung habe, auch wenn sie sachlich unfundiert sei, sei weder eine Störung noch ein Verhinderungsversuch. Damit war auch dieser Ausrutscher in Richtung Verschwörungsdenken erledigt. Es hätte auch keinen Grund gegeben, den Auftritt der Befürworter eines „intelligenten Designs“ zu verhindern. Die wissenschaftlichen Gegenargumente wurden überzeugend vorgebracht, und für Personen mit Sachkenntnis gab es einige Erkenntnisgewinne. Subjektiv sah es nach einem Punktsieg für die Wissenschaft aus, aber diese Effekte hingen von den Vorannahmen der Zuhörerinnen und Zuhörer ab. Der Mut der Veranstalter ist jedoch an sich sehr anerkennenswert. Immerhin kann man nun nicht sagen, die Kritiker hätten im Darwin-Jahr gar keine Gelegenheit bekommen, sich öffentlich zu äußern. Auf der anderen Seite ließ sich die Attraktivität der Pseudowissenschaft „intelligent design“ in einem solchen Rahmen kaum diskutieren, und wohl gar nicht abbauen. Sie beruht nicht auf wissenschaftlichen, eigentlich auch nicht auf philosophischen oder theologischen, Argumenten, sondern auf dem Wunsch nach einem geschlossenen Weltbild, das Sicherheit vermittelt. Und dieser Wunsch ist naturwissenschaftlich in der Form einer Debatte kaum reflektierbar.
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[1] Ausstellungsband s. Ulrich Schmid, Günter Bechly (Hg.): Evolution – Der Fluss des Lebens, Staatliches Museum für Naturkunde; Stuttgart 2009 [2] S. dazu Johannes Sikorski: Die bakterielle Flagelle – Stand der Forschung zu molekularem Aufbau, Diversität und Evolution, in: Martin Neukamm (Hg.): Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus, Göttingen 2009 262-301

[2] S. dazu Johannes Sikorski: Die bakterielle Flagelle – Stand der Forschung zu molekularem Aufbau, Diversität und Evolution, in: Martin Neukamm (Hg.): Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus, Göttingen 2009 262-301

Abbildung: Wissenschaftliche Erklärung des Flagellenmotors, ein entkräftetes Paradebeispiel der Intelligent-Design-Kreationisten. Modell in der aktuellen Sonderausstellung "Evolution - Der Fluss des Lebens" im Stuttgarter Naturkundemuseum.

Kurzbiografie:
Dr. Hansjörg Hemminger studierte Biologie im Hauptfach und Psychologie im Nebenfach an den Universitäten Tübingen und Freiburg. Er habilitierte sich an der Universität Freiburg/Br. im Fach „Verhaltensbiologie des Menschen“. In den Jahren 1984 bis 1996 war er wissenschaftlicher Referent bei der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW) in Stuttgart, einem Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland. Seit März 1997 ist er Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Außerdem war Hansjörg Hemminger Mitglied der Enquète-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ des 13. Deutschen Bundestags. Er publizierte zahlreiche Artikel und Bücher zu religionspsychologischen Themen und zu Fragen der Beziehung von Theologie und Naturwissenschaft, darunter „Was ist eine Sekte?“, „Aberglauben“ und „Grundwissen Religionspsychologie“; 2009 erschien „Und Gott schuf Darwins Welt“, eine Auseinandersetzung mit Kreationismus und „intelligentem Design“. Im ebenfalls 2009 erschienenen Buch "Evolution im Fadenkreuz des Kreationismus" (Hrsg. Martin Neukamm) finden sich zwei weitere Beiträge von Hansjörg Hemminger.

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Die Durchführung einer Podiumsdiskussion zwischen Naturwissenschaftlern und Kreationisten an einem staatlichen Naturkundemuseum wurde von Andreas Müller, Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung sowie Redakteur des sog. Darwin-Jahr-Komitees unter dem Titel "Kreationisten im Naturkundemuseum" kritisiert. Eine Reaktion des dort kritisierten Reinhold Leinfelder findet sich in diesem Blog unter dem Titel "Das Darwin-Jahr-Komitée jagt Naturkundemuseen?"
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Dienstag, 17. November 2009

Evolution und Klima - Skeptiker überall

von Reinhold Leinfelder (mit Nachtrag vom 19.11.09 am Ende der Seite)

Ach du lieber Darwin, was hat denn das Darwin-Jahr mit Klimapolitik zu tun, muss dies denn auch noch auf dem Blog erscheinen?!

Nun denn, wir sind ja dabei, die Themen rund ums Darwin-Jahr aufzuweiten, denn auch Charles Darwin dachte weit über den Tellerrand hinaus - der kürzlich in AdlD vorgestellte Artikel zu Darwin und die Sklaven ist ein gutes Beispiel dafür. Aber tatsächlich gibt es jede Menge Bezüge zwischen Darwin bzw. der Evolutionstheorie und der Klimaforschung:

Darwin und das Klima

Darwins Atolltheorie hatte Klimaauswirkungen wie steigenden Meeresspiegel schon vorweg genommen (>Klimawandel: was wir von Darwin lernen können , von R. Leinfelder, 12.2.2007)

Und den Staub der Beagle, den Darwin ans Berliner Museum für Naturkunde schickte, weil er sich über dessen Herkunft wunderte, ist gewissermaßen eine repräsentative Probe der ozeanischen Atmosphäre zum Zeitpunkt der massiven Industrialisierung. (> Klimaforscher Darwin, Die WELT 2008, sowie > Mehr als 150 Jahre und noch immer quicklebendig, Tagesspiegel vom 14.11.2009)

Vor allem aber wusste Darwin bereits, welche Rolle das Klima als Selektionsfaktor spielt. So schrieb er etwa in Kap. III (Struggle for existence) seines "On the origins of species" u.a. folgendes:

"Climate plays an important part in determining the average numbers of a species, and periodical seasons of extreme cold or drought, I believe to be the most effective of all checks. ... The action of climate seems at first sight to be quite independent of the struggle for existence; but in so far as climate chiefly acts in reducing food, it brings on the most severe struggle between the individuals, whether of the same or of distinct species, which subsist on the same kind of food. ....
When we travel from south to north, or from a damp region to a dry, we invariably see some species gradually getting rarer and rarer, and finally disappearing; and the change of climate being conspicuous, we are tempted to attribute the whole effect to its direct action. But this is a very false view: we forget that each species, even where it most abounds, is constantly suffering enormous destruction at some period of its life, from enemies or from competitors for the same place and food; and if these enemies or competitors be in the least degree favoured by any slight change of climate, they will increase in numbers, and, as each area is already fully stocked with inhabitants, the other species will decrease.....
That climate acts in main part indirectly by favouring other species, we may clearly see in the prodigious number of plants in our gardens which can perfectly well endure our climate, but which never become naturalised, for they cannot compete with our native plants, nor resist destruction by our native animals."

Dies sind nur einige wenige Beispiele, die zeigen, wie schon Charles Darwin die direkten und indirekten Selektionswirkungen des Klimas erkannte. Umso verwunderlicher, dass heute die Auswirkungen von Klimaveränderungen häufig wieder stark relativiert werden, vor allem wenn es um die Frage geht, ob der anthropogene Anteil wirklich so groß und bedrohlich sei bzw. ob dies denn wirklich auch alles durch die Forschung belegt sei.

Kreationisten und Klimaskeptiker

Dies bringt uns zu einer weiteren Parallele zwischen Evolutions- und Klimaforschung. Auch die Evolutionstheorie wird ja kräftig angezweifelt, angeblich sei das ja alles nicht wissenschaftlich haltbar. Darauf müssen wir hier wirklich nicht eingehen, das haben wir an anderer Stelle schon häufig getan - das Darwin-Jahr ist ja voll vom Thema Kreationismus und sog. Intelligent-Design. Aber in der Klimaforschung ist es nicht viel anders, auch hier tummeln sich grundsätzliche Zweifler sowie diejenigen, die meinen, man wüsste noch viel zu wenig und die Wissenslücken seien derart groß, dass Handlungsempfehlungen, etwa die Absicht, das Klima möglichst nicht über 2 Grad-Erhöhung hinauslaufen zu lassen, nicht haltbar seien. Diese "2-Grad-Gläubigen" seien alle ideologisch verblendet, wollten eine Weltregierung einführen, seien Ökofaschisten oder was auch sonst noch. Tatsächlich drehen die Klimaskeptiker aber den Spieß gerne rum, nicht sie sind es, die man mit Kreationisten vergleichen könnte, sondern umgekehrt, die "2-Grad-Gläubigen" seien die Dogmatiker, die ähnlich den Kreationisten Ideologien und damit verknüpfte politische Agenden fahren würden und dabei völlig unwissenschaftlich seien.
Dieses Fass wollen wir in "Ach du lieber Darwin" derzeit nicht weiter aufmachen, statt dessen finden Sie am Ende dieses Artikels ein paar links zu Artikeln, welche Kreationisten und Klimaskeptiker vergleichen.

Ähnlich wie bei den Evolutionsleugnern gibt es auch etliche Naturwissenschaftler unter den Klimaskeptikern, darunter sogar Geowissenschaftler, die ja Klimaveränderungen sowie ihre direkten und indirekten Auswirkungen auf die Umwelt und die Lebewelt aus der Erdgeschichte eigentlich gut kennen müssten.


Klimaforschungsrelativisten

Neu ist eine weitere Gruppe, die manche vielleicht sogar mit Intelligent Design-Anhängern vergleichen würden. Einige Geowissenschaftler lassen zwar gelten, dass das anthropogene CO2 zur Klimaveränderung beiträgt, aber wie genau, das würde man eben nicht wissen, Modelle, die das berechnen würden, seien nicht gut genug, es gäbe noch ganz andere Faktoren, das ganze sei viel zu komplex (erinnert dies nicht wirklich an die "irreducable complexity" der IDler?), um etwa wissenschaftlich begründet das 2-Grad-Ziel formulieren zu können, und da müsse man erst noch kräftig forschen. Zugegeben, diese Analogie mit Intelligent Design mag überspitzt erscheinen. Natürlich haben fundamentale Sechstage-Kreationisten mit fundamentalen Klimaskeptikern bzw. Intelligent-Design-Anhänger mit Klimaforschungsrelativisten nun keine gemeinsamen weltanschaulich-religiösen Agenden. Auch fordern Klimaforschungsrelativisten ja im Unterschied zu IDler mehr Forschung (und mehr Forschungsgelder). Aber richtig ist, dass Kreationisten und IDler den Evolutionswissenschaftlern doch gerne mal vorwerfen, dass die "Darwinisten" keine Wissenschaft, sondern Ideologie betreiben würden, und das passiert analog tatsächlich auch beim Klimathema. "Echte" Klimaskeptiker behaupten, die Klimaforscher betrieben Ideologie, denn sie wollten unter dem Deckmantel des globalen Klimaschutzes eine kommunistische Weltherrschaft etablieren oder träten für einen Ökofaschischmus ein. Und selbst die Klimaforschungsrelativisten behaupten immerhin schon mal gerne, dass die "2-Grad"-Klimaforscher eigene politische Agenden betreiben würden. Den Vorwurf könnte man allerdings ohne weiteres auch umdrehen. Und wenn gesagt wird, dass das Klima eh macht was es will, erinnert mich das ein bisschen an den Fatalismus fundamentalreligiöser. Allerdings nicht ganz, denn man kann natürlich etwas tun - sich anpassen an den Klimawandel durch neue großtechnologische Entwicklungen (ein mögliches Beispiel zeigen wir in der Abbildung :-)

Es geht mir wirklich nicht darum, zu polemisieren, aber ich denke es ist schon wichtig klarzustellen, dass hinter der dringenden Empfehlung nach der "2-Grad-Limitierung" des globalen Klimaanstiegs keine ideologischen Spinner stehen, sondern die ganz überwiegende Mehrheit der Klimaforscher. So flossen z.B. in den 4. Zustandsbericht des IPCC von 2007 über 2500 Expertenreviews ein, der Bericht ist geschrieben von über 450 Hauptautoren und über 800 "beitragenden" Autoren. Wissenschaftler aus 130 Ländern hatten 6 Jahre an diesem 4.IPCC-Bericht gearbeitet. Außerdem ist es wichtig zu betonen, dass nicht die Mehrheit der Geowissenschaftler zu den Klimaforschungsrelativisten zählt. Der eine oder andere Geowissenschaftler mag allerdings vielleicht deshalb Schwierigkeiten mit der Relevanz der 2-Grad-Leitplanke haben, weil diese auf unser in geowissenschaftlichen Maßstäben extrem kurzes Hochkulturzeitfenster bezogen ist. Geowissenschaftler sind es gewohnt, in geologischen Skalen zu denken.

Natürlich wissen wir immer noch viel zu wenig über das Klimageschehen sowie über die Auswirkungen auf die Umwelt und das Leben. Aber wir wissen mehr als genug, um sagen zu können, dass das Weltklima mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit aus dem Ruder laufen wird, was katastrophale Folgen für die menschliche Gesellschaft hätte, wenn nicht umgehend umfassende Reduktionsmaßnahmen für CO2 auf globaler Ebene vereinbart werden. Deshalb ist das Thema Klimagipfel im Kopenhagen durchaus auch ein Thema im Darwin-Jahr. Der globale Selektionsversuch, den sich die Menschheit durch ihren Eingriff in das Weltklima und die Umwelt selbst auferlegt hat, darf nicht außer Kontrolle geraten.


Aktuell: Wissenschaft oder 2 Grad-Celsius-Limit?

Und dass wir gerade jetzt dieses Thema eröffnen, hat natürlich auch einen aktuellen Anlass, denn vor kurzem fand eine geowissenschaftliche Konferenz in Berlin statt, welche ursprünglich im Internet unter dem Titel „Was wissen wir vom Klima – Wissenschaft oder 2-Grad-Celsius-Limit“ angekündigt wurde. Der ursprüngliche Konferenztitel wurde später vorsichtshalber zu „Klima im System Erde – Antworten und Fragen aus den Geowissenschaften“ umbenannt. Falls Sie dieses Thema interessiert, lesen Sie doch einfach weiter und stöbern in den verlinkten Artikeln:

FAZ-Artikel vom 29.10.2009: Klimawandel und Erdpolitik. Ein Limit von zwei Grad Erwärmung ist praktisch Unsinn. "Drei große deutsche Geoinstitute stellen sich quer zur internationalen Klimapolitik. Statt nur über Temperaturen und Emissionen sollte über ein Erdsystemmanagement verhandelt werden, sagen die Direktoren Karin Lochte, Reinhard Hüttl und Volker Mosbrugger. In Kürze soll das Thema auf der gemeinsamen Konferenz „Klima im System Erde“ besprochen werden. Im Gespräch erläutern sie ihre Motive." > weiterlesen

Der Artikel sowie diese Tagung haben ziemlichen Wirbel verursacht.

Zuerst einmal haben sich die Klimaskeptiker gefreut, hier als Beispiel ein noch eher "moderater" Artikel:

ef-online, vom 30.10.09: Erderwärmung: Es gibt keine Alternative zur Anpassung an den Klimawandel. Geologen halten das Zwei-Grad-Limit für baren Unsinn. > siehe hier

Auch in den nicht von Klimaskeptikern dominierten Medien war der Impakt zur Tagung recht groß und es gab viel Wohlwollendes, etwa hier:

Potsdamer neueste Nachrichten vom 4.11.09: Erhebliche Schwachstellen. Die Potsdamer Geo- und Polarforschung stemmt sich gegen die offizielle Klimapolitik und mahnt eine Kurskorrektur an. > siehe hier

Tagesspiegel vom 4.11.2009: Labiler Planet. Um den Klimawandel zu bewältigen, genügt es nicht, Emissionen zu verringern. > siehe hier

Neue Zürcher Zeitung vom 10.11.09: CO 2 -Emissionen sind nicht alles. Forscher plädieren für vielschichtige Klimadiskussion. > siehe hier


Es gab allerdings auch kräftig und zunehmend Kritik:

Radiobericht in BR 2 (IQ) vom 2.11.09: podcast > siehe hier (kurz nach Mitte des mp3 beginnt der Beitrag von Renate Ell)

Weiterer Beitrag von Renate Ell vom 13.11. in vdi-Nachrichten: "Wechselwirkungen beim Klima nicht genau verstanden" > siehe hier.

Auch andere Geowissenschaftler und Klimaforscher meldeten sich kritisch zu Wort:

Reaktion von Reinhold Leinfelder im Tagesspiegel vom 10.11.2009: Zögerliche Geowissenschaftler bremsen die Klimapolitik – ausgerechnet vor Kopenhagen. > siehe hier
(Tipp, sehen Sie sich auch die Kommentareintragungen von Klimaskeptikern am Ende des Artikels an, sehr lehrreich).

Im heutigen Spiegel online (vom 17.11.2009): Erderwärmung. Klimaforscher protestieren gegen Institutsdirektoren. > siehe hier.
(Nachtrag vom 19.11.09: Hier das Originalstatement, auf welches im Spiegel-Artikel Bezug genommen wird)

Die Klimaskeptiker haben sich natürlich sofort kräftig gemeldet - große Ehre, der Artikel wurde von den Skeptikern sogar auf Englisch übersetzt und von Australien bis USA gemeldet. Ein paar Beispiele:
>Desperate Climate-Tors!
>Jetzt mit offenem Visier?

Von Interesse vielleicht auch in der heutigen Süddeutschen Zeitung (vom 17.11.2009):
Klimagipfel "Die Industrieländer kneifen wieder". "Die Wanne ist voll": Klimaexperten sind empört über das absehbare Scheitern eines weltweiten CO2-Abkommens.
In diesem Artikel positionieren sich acht Wissenschaftler. > siehe hier

Der dort aufgenommene eigene Kurzbeitrag sei nachfolgend wiedergegeben:

"Das bisschen Aufschub ist doch kein Problem, schließlich hat sich das Klima schon immer gewandelt? Schon richtig, Ökosysteme wie Korallenriffe haben sich im Laufe der Erdgeschichte immer wieder erholt, dummerweise aber erst nach Millionen von Jahren. Auch der Mensch hat schon höhere Temperaturschwankungen überdauert, dummerweise aber nur als jagender Nomade. Die moderne Kultur, bestehend aus Landwirtschaft, Arbeitsteilung, Handel und fragiler Infrastruktur hat sich in einem kurzen, klimatisch stabilen Zeitfenster entwickelt. In den vergangenen fünftausend Jahren schwankte das Weltklima nur um wenige Zehntel Grad pro Jahrhundert, im industrialisierten 20. Jahrhundert waren es plötzlich 0,8 Grad. Der heutige CO2-Wert in der Luft ist bereits höher als in den vergangenen Millionen Jahren. Der Mensch wird deshalb nicht als Spezies aussterben, aber das Ausmaß und die unglaubliche Beschleunigung des Wandels bedrohen die Zivilisation. Die atmosphärische CO2-Wanne ist voll, der Abfluss zu klein. Daher muss jetzt, ohne Aufschub, gehandelt werden."
Weiter Beiträge in diesem Artikel sind von Claudia Kempfert, Abt. Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Niklas Höhne, Autor des Weltklimarat-Berichts von 2007, Hans-Joachim Schellnhuber, PIK, Fatih Birol, Internationale Energieagentur in Paris, Wolfgang Sterk, Abtl. Klimapolitik, Wuppertal-Institut, Peter Lemke, AWI, Autor des IPCC zwischen 2000 und 2006. Peter Höppe, Georisikoforschung der Munich Re.

Wie Sie sehen, Wissenschaftsrelativismus, Wissenschaftsskeptizismus und Wissenschaftsfeindlichkeit gibt es nicht nur in der Auseinandersetzung mit den Evolutionswissenschaften. Ob das wohl ein Trost für Darwin sein kann?


Ihr
Reinhold Leinfelder



Anhang: Einige Artikel zum Vergleich von Klimaskeptikern mit Kreationisten sowie zu den Pseudoargumenten der Klimaskeptiker
> Happy Birthday, Charles Darwin, von RealClimate-Blog, 2006.
> Climate Change Creationists, Environment Blog, The Guardian, 4.3.2009
> Climate Change Deniers and Creationists, The Ethical Palaeontologist Blog, 10.4.2007
> Die Thesen der Klimaskeptiker - was ist dran? PIK-Homepage v. Stefan Rahmstorf (Sept. 2004)
> Die Klimahysteriedurchschauer und die Medien. Rezension von 2008
> Klimawandel.Eine heiße Debatte. Verursacht der Mensch die globale Erwärmung? Darüber streiten Forscher und Skeptiker erbittert. FOCUS online (2007)


Wer sich zum Klimathema informieren will, dem seien zwei Bücher empfohlen (natürlich gibt es viel mehr empfehlenswertes):
S. Rahmstorf & H.-J. Schellnhuber (2007): Der Klimawandel: Diagnose, Prognose, Therapie. CH-Beck-Verlag.
D. Archer (2008): Long Thaw: How Humans Are Changing the Next 100,000 Years of Earth's Climate (Science Essentials). Princeton University Press


Bild oben gefunden und verlinkt unter www.funnyandjokes.com
Bild unten gefunden und verlinkt unter http://de.toonpool.com

---- Nachtrag vom 19.11.2009 ----

Um unseren kleinen Vergleich zur Wissenschaftsfeindlichkeit bzw. - akzeptanz von Evolutionswissenschaften und Klimawissenschaften zu komplettieren, sind folgende Fundstücke vielleicht noch interessant:

Kreationisten behaupten gerne, dass Evolutionswissenschaftler selbst missionarisch vorgehen. Tatsächlich wird diese Falschaussage dadurch gestützt, dass einige das komplette Verhalten des Menschen biologisch erklären wollen, sie werden gerne Szientisten oder Biologisten genannt. Wir haben hier mehrfach dazu berichtet. Biologisten scheinen also die Unterstellung der Kreationisten, dass Evolutionswissenschaften selbst eine ideologische Agenda zu verfolgen, zu bestätigen. Grundfalsch ist dabei natürlich die Verallgemeinerung, dass dies für alle Evolutionswissenschaftler gelte. Das Groß der Wissenschaftler kennt die Grenzen der Anwendbarkeit und Erkenntnisfähigkeit ihrer Wissenschaft sehr genau.

Klimaskeptiker unterstellen den Klimawissenschaftlern ebenfalls gerne ideologische Motive, etwa dass unter dem Vorwand des Klimaschutzes die Demokratie abgeschaft werden soll und ein weltweiter Kommunismus errichtet werden soll, wir haben oben darüber berichtet. Hier noch ein Beispiel:
"Global warming has taken the place of Communism as an absurdity that "liberals" will defend to the death regardless of the evidence showing its folly. Evidence never has mattered to real Leftists" oder "The desire to save humanity is always a false front for the urge to rule it" (aus >antigreen.blogspot.com)

Es gibt auch "Klimawandel-Atheisten":
"I am not a global warming skeptic nor am I a global warming denier. I am a global warming atheist. I don't believe one bit of it. That the earth's climate changes is undeniable. Only ignoramuses believe that climate stability is normal. But I see NO evidence to say that mankind has had anything to do with any of the changes observed -- and much evidence against that claim. " (aus >antigreen.blogspot.com)

Eine völlig neue Erfahrung ist allerdings, dass mir nun auch von anderer Seite Inkonsequenz und Relativismus vorgeworfen wird. So wirft mir ein Kommentator namens Karl Weiss in der Online-Zeitung "Berliner Umschau" bezüglich meines Statements in der Süddeutschen Zeitung vom 17.11.09 doch gleich eine ganze Menge vor, nachfolgend ein paar Zitate:
(>Zitat Berliner Umschau) "In der Süddeutschen vom 17.11. 09 wurden die Texte von insgesamt 7 „Experten“ zum „Klimawandel“ ins Netz gestellt, die bereits alle ihre Enttäuschung über das Fehlen des Willens zu einen verpflichtenden Abkommen in Kopenhagen ausdrücken. Allerdings benennt keiner von ihnen das Problem richtig, keiner von ihnen benennt die Verursacher und Hintermänner dieses Fiaskos und keiner von ihnen weiss einen Ausweg. Nicht einer der Experten benennt das Problem klar als „Klimakatastrophe“. Es wird verniedlichend von Klimawandel geredet, von Klimaschutz und einer von ihnen behautet sogar: „Der Mensch deshalb wird nicht als Spezies aussterben . . .“ und legt nahe, die Menschheit, wie wir sie kennen, könnte überleben, wenn der „Point of no return“ in den nächsten Jahren überschritten wird und dann ein selbstbeschleunigender Prozess einsetzt, der von keiner menschlichen Anstrengung mehr gestoppt werden kann.
Zwar hat er rein formal Recht, denn er hat ja nur behauptete „als Spezies“. Tatsächlich könnte nach einer Klimakatastrophe eventuell hier oder dort ein kleines Grüppchen von Menschen unter speziellen Bedingungen überleben, aber „die Menschheit“ wird einer Klimakatastrophe eben zum Opfer fallen.
Wer dieser spitzfindige Verdreher ist? Er heißt Reinhold Leinfelder und ist Berater der Bundesregierung über globale Umweltveränderungen. Na, die Bundesregierung weiss eben, welche Berater man sich holt, nicht wahr?" (Zitat Ende)
Der Artikel nennt sich ">Das Ende der Menschheit - Wir oder sie?" Es wäre unnötig, diesen - pardon - Stuss hier zu erwähnen, aber der Abschluss des Artikels ist besonders aufschlussreich:
(Zitat) "Frau Merkel wird in Kopenhagen keinem Kompromiss über Selbstverpflichtungen zustimmen. Nicht weil sie zu dumm ist, nicht weil sie keine gesamtwirtschaftlichen Rechnungen aufmachen kann (oder sagen wir, selbst wenn sie es könnte), sondern weil sie klare Aufträge hat von Vattenfall, EON und RWE, von Daimler, BMW und VW, von BP und Shell (im europäischen Rahmen). Diese und alle anderen Monopolkonzerne sind die Totengräber der Menschheit, wenn es uns nicht gelingt, sie aufzuhalten.
Wir oder sie – kein anderer Weg ist möglich.
Eine neue - von den Grünen befreite - Umweltbewegung, muss radikal und gegen alle Widerstände eine grundsätzliche Wende der Energiebasis zu erneuerbaren Energien durchsetzen, koste es was es wolle. Das sind wir unseren Kindern und Enkeln schuldig." (Zitat Ende)

Also, hier wird der Klimawandel, der durchaus katastrophal werden könnte, diesbezüglich ist dem Autor zuzustimmen, aber nur dort, tatsächlich mehr als offensichtlich zu ideologischen Zwecken verwendet, die Klimaskeptiker freuen sich über diese Bestätigung ihrer Unterstellungen. Immerhin bleibt sich Autor Karl Weiss selbst treu. Schon Ende 2007 schrieb er zum Bali-Klimagipfel> in seinem Blog.

(Zitat) "Die Staaten als einzige Macht in den Ländern werden schwächer und können immer weniger internationale Vereinbarungen abschliessen. Gleichzeitig werden kriminelle Mafia-Organisationen und Unternehmen, die ähnlich wie solche agieren (siehe: Siemens), immer stärker und beginnen die Staatsmacht herauszufordern. Die Tendenz geht zu Warlord-Ländern, wo von internationalen Vereinbarungen nicht einmal mehr geträumt werden kann. Einige Entwicklungsländer sind schon weit fortgeschritten auf diesem Weg.
Die sozialistische Revolution steht in jeder Beziehung auf der Tagesordnung." (Zitat Ende)
Und dem Blogautor von AdlD ergeht es wie schon oft: egal ob Evolutionswissenschaften oder Klimawissenschaften, die Attacken kommen von gegensätzlichen Seiten. Aber so ist das halt, wenn man versucht weder alarmistisch, noch relativistisch noch missionarisch zu sein. Herr Weiss, besten Dank für dieses willkommene Beispiel, um die kleine Analogiegeschichte zu Anfeindungen der Evolutionswissenschaften und Klimawissenschaften zu komplettieren.

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Sonntag, 15. November 2009

Palaeontologia Quo Vadis?

Nachdem wir im vorherigen Beitrag auf die sehr frühe paläontologische Evolutionsforschung in Deutschland eingingen, präsentieren wir nachfolgend einen kleinen, persönlichen Kommentar zur Situation der heutigen Paläontologie in Deutschland sowie ihrer möglichen Zukunft.

Die deutsche Paläontologie war und ist im Darwin-Jahr überaus aktiv, die meisten Sonderausstellungen zu Darwin und der Evolutionstheorie beinhalten paläontologische Aspekte, manche Sonderausstellungen, wie im Goldfuß-Museum in Bonn präsentieren Darwin als Geologen und Paläontologen (siehe Bild), und die 79. Jahrestagung der Paläontologischen Gesellschaft fand unter dem Rahmenthema „ Paläontologie - Schlüssel zur Evolution" statt (> Rückblick und Programm). Die Ausstellungen wurden überwiegend in abgestimmter und kooperierender Weise erstellt und sind in einem gemeinsamen Veranstaltungskalender dargestellt. Außerdem vereinbarten die Naturkundemuseen der Deutschen Naturwissenschaftlichen Forschungssammlungen e.V. eine gemeinsame Positionierung gegenüber pseudowissenschaftlichen Angriffen auf die Evolutionsforschung (AdlD berichtete), die gerade auch die paläontologische Evolutionsforschung betrifft. Im Darwin-Jahr fand auch ein Archaeopteryx-Klassentreffen in München statt (AdlD berichtete), aber im Anbetracht des Abwanderns des in Deutschland gefundenen und im Darwin-Jahr nach Norwegen verkauften Darwinius, aka "Tante Ida" (AdlD berichtete) wurden gemeinsame Anstrengungen zum Erwerb in zukünftigen Fällen zwischen verschiedenen großen Museen vereinbart. Erwähnenswert ist auch, dass der 2009 neu gewählte Präsident der Paläontologischen Gesellschaft, Dr. Michael Wuttke beruflich für den Fossilschutz eines Bundeslandes zuständig ist.

Der nachfolgende Auszug aus dem Fazit eines soeben erschienen Artikel fokussiert nun insbesondere auf der Aspekt der Forschung der deutschen Paläontologie:


Palaeontologia Quo Vadis?


Von Reinhold Leinfelder

Die Paläontologie war immer wieder der Pulsgeber der Naturwissenschaften. Nicolaus Steno war, als Begründer der Paläontologie im 17. Jahrhundert seiner Zeit weit voraus. Der Paläontologe Leopold von Buch formulierte bereits vor Darwin kohärente evolutionäre Gedanken. Auch Charles Darwin wäre ohne sein geologisches und paläontologisches Wissen, welches insbesondere auf seinen Mentor und Freund Charles Lyell zurückging, wohl deutlich langsamer vorangekommen. Darwin bezeichnete sich ja auch selbst gerne als Geologe, was die Paläontologie mit einschloss. Paläontologischer Forschung haftete also schon immer ein progressives Element an. Andererseits waren es immer wieder gerade auch Paläontologen, die neue wissenschaftliche Erkenntnisse leugneten und Evolutionsskeptiker waren. So hielt der große Paläontologe George Cuvier überhaupt nichts von den evolutionären Überlegungen eines Jean-Baptiste Lamarck, obwohl Cuvier selbst hervorragende Ergebnisse zur späteren Untermauerung der Evolutionstheorie Darwins erarbeitete. Im Unterschied zum Biologen Ernst Haeckel lehnten viele deutsche Paläontologen die darwinsche Evolutionstheorie lange ab, so etwa der Münchner Paläontologe Andreas Wagner, der den 1. Archaeopteryx-Fund als darwinistische Propaganda abtat und den Urvogel als ungewöhnliches Reptil ansah (Wagner 1861). Noch 1950, also schon über 90 Jahre nach Erscheinen der „Origin of Species“ von Charles Darwin formulierte O.F. Schindewolf seine Typostrophentheorie (Schindewolf 1950), eine eigenwillige Evolutionstheorie, die im Widerspruch zu Darwins Theorie steht (Korn 2003).
Auch heute gilt es wieder, sich zwischen Zweifel an neuen wissenschaftlichen Befunden und Überinterpretation von Wissenschaft zu positionieren. Die Geowissenschaften tun gut daran, weder bei einer unauthorisierbaren „Siebenmeilenstiefel“-Forschung mitzuarbeiten, noch grundsätzliche Vorbehalte gegenüber alternativen Ansätzen, wie Molekularbiologie, Systembiologie und physikalisch-mathematischer Klimaforschung zu hegen, sondern sich konstruktiv einzubringen und auch umgekehrt Kompetenz und Kooperation anzubieten. Sehr vieles davon geschieht auch bereits, es gilt dies allerdings noch besser sichtbar zu machen.

Die Paläontologie hat sich in den letzten Jahren zunehmend modularisiert. Dies ist kein Schaden, sondern ein allgemeiner Zug der Naturwissenschaften. Andere Fächer haben damit keinerlei Probleme. Disziplinäre Grenzen verschwinden häufig, die Forschungsprojekte sind stark fragenorientiert und basieren nicht mehr auf angehäuften, jedoch bis dato unbearbeiteten Objekten und Daten. Viele junge, aber auch ältere Paläontologen arbeiten heute selbstverständlich auch mit molekularen und geochemischen Methoden, wie auch umgekehrt molekular arbeitende Biologen und Geochemiker immer enger auch mit Paläontologen zusammenarbeiten. Die Vernetzung der Paläontologen und Geobiologen in die Umweltwissenschaften hinein ist ebenfalls als positiv anzusehen. Die klassische paläontologische Systematik und Taxonomie muss selbstverständlich ein starkes Modul bleiben, denn sie hat starken Service-Charakter für Evolutions-, Biodiversitäts- und sonstige Umweltforschung. Allerdings muss auch sie sich weiter öffnen. Gerade die Methodenvielfalt taxonomischen und phylogenetischen Arbeitens macht ihre Stärke aus. Und auch für die Taxonomie muss die Frage gestattet sein: warum mache ich gerade das, was ich hier untersuche, wem nützt es?

Integratives, ganzheitliches, auch quantitatives Arbeiten stellt die wesentliche, in Teilen jedoch bereits sehr gut angenommene Herausforderung für die Paläontologie dar. Qualitatives Wissen allein, etwa mit Aussagen, dass sich die Umwelt ja immer geändert hat, oder dass es bei Meeresspiegelanstieg zu Sauerstoffzehrung kommen kann, genügt heute nicht mehr. Gefragt ist, wie exakt sich derartige Änderungen quantifizieren sowie, ggf. auf der retrognostischen Methode aufbauend, genügend exakt vorhersagen lassen. Die Biologie zieht ihren Forschungsweg vom Gen zum Genom, von DNA-Expression zu EvoDevo, von Modellorganismen zum quantitativen Studium ganzer Ökosysteme. Die Paläontologie muss ähnliche Wege gehen. Palaeogenomics wird eine wichtige Bedeutung in der Paläontologie erlangen, aber auch datenbankbasiertes Arbeiten, insbesondere unter Benutzung von Sammlungen muss stärker zunehmen. Internationale Plattformen und Infrastrukturen sollten hier umfassend ausgebaut werden. Isolierte Elfenbeintürmchen sind also durch ein Leuchtfeuer aus der ganzen Community einzutauschen.

Gerade in der Öffentlichkeitsarbeit hat die Paläontologie ganz besonders gute Karten. Um den Dinosaurier-Faktor werden die Paläontologen von vielen anderen beneidet, auch wenn sich Paläontologen oft einmal wünschen würden, dass auch häufiger anderes aus ihrer Forschung im Vordergrund stehen möge. Um so besser, dass gerade in Deutschland die Dinosaurierforschung auch kräftig, innovativ und transdisziplinär mit modernsten Methoden weiter voran geht. Ob Dinos leicht Rückenschmerzen hatten, wie viel sie fressen mussten und warum sie es schafften, ihren langen Hals überhaupt zu halten, interessiert viele und findet oft sogar Einzug in Science oder Nature. Auch spektakuläre Neufunde in die Medien zu bringen, fällt nicht allzu schwer. Aber die Gemeinschaft sollte sich nicht darauf beschränken, sondern auch versuchen, Ergebnisse, welche für heutige Herausforderungen relevant sind, etwa zu Paläoklima, fossiler Ozeanversauerung oder Aussterben noch stärker öffentlich darzustellen. Die Trennung in durch Proben und Daten belegbares faktenbasiertes Wissen und hypothetischem Wissen muss dabei ebenfalls verbessert werden.

Ganz wesentlich erscheint mir, dass Geowissenschaftler, darunter insbesondere Paläontologen besser als alle anderen Naturwissenschaftler ein „inniges“ Verhältnis zu Zeitskalen und Zeitdynamik aufweisen. Dies gilt es besser herauszuarbeiten, besser zu beforschen. Die Welt ist nicht statisch, sondern dynamisch, das wussten die Geowissenschaftler als erste. Die Bedeutung dieser Dynamik besser in den Griff zu bekommen, über Verzögerungs- und Kumulationseffekte, nichtlineare, exponentielle oder kaskadenartige Prozesse genauere Aussagen machen zu können, ist eine anstehende wesentliche Aufgabe. Eine höhere Zeitauflösung aller dynamischen Abläufe und Prozesse der Erdgeschichte zu erreichen und damit ein besseres Verständnis für die Elastizität bzw. Reaktivität komplexer Natursysteme zu erarbeiten, ist wohl die größte Herausforderung, aber auch die größte Chance für die Paläontologie der nächsten Jahrzehnte.

Die deutsche Paläontologie verfügt insgesamt über ein weites Spektrum an Forschungsaktivitäten, auf die selbstbewusst geblickt werden kann, auch wenn viele davon tatsächlich nicht mehr ohne weiteres als „klassische“ Paläontologie bezeichnet werden können. Nicht scheuen solle man sich vor der selbstbewussten Verwendung des Begriffs „Paläontologie“, also der „Lehre vom alten Sein“, welche sich auf alle Aspekte und Prozesse des Lebens, sowie auf deren Relevanz für das Heute bezieht, genauso wie auch Politikwissenschaften den Bogen von früher zum heute spannen, um das heute und morgen zu verstehen.

Quelle: Leicht abgeänderter Auszug aus:

Leinfelder, R.R. (2009): Palaeontologia Quo Vadis? - Zur Situation und Zukunft der paläontologischen Forschung. - In: Kohring, R., Riedel, F. & Zobel, K. (eds), Zum 60. Geburtstag von Prof. Dr. Helmut Keupp, Berliner paläobiologische Abhandlungen, 10, 229-243, Berlin. (erschienen am 11.11.2009)

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