Montag, 13. Dezember 2010

Nach Nagoya und Cancun - Kultur, Technik und Natur für die neue Menschenzeit

Rezension: Christian Schwägerl: Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten. 320 S., Riemann 2010. € 19,95

von Reinhold Leinfelder

Der aktuelle Ausgang der Klimaverhandlungen in Cancun sowie der Biodiversitätsverhandlungen in Nagoya zeigt umso klarer, dass die globale Staatengemeinschaft bestenfalls einen Rahmen zur nachhaltigen Entwicklung vorgeben kann, die eigentliche Transformation der Gesellschaft hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft jedoch nur von ihr selbst vorangetrieben werden kann. Hierbei müssen Vermeidung und Anpassung, wissenschaftliches Wissen und Lebensfreude, Lebensstil und Verantwortung, regionales und globales verknüpft und gemeinsam behandelt werden. Eine der besten Anregungen hierzu liefert das o.a.Buch von Christian Schwägerl. Eine Kurzrezension dieses Buches durch den Rezensenten ist bereits im Tagesspiegel sowie in den Potsdamer Neueste Nachrichten erschienen. Nachfolgend finden Sie zur weiteren Meinungsbildung eine erweiterte Version, die von einer aktuellen, persönlichen Anregung zur weiteren Diskussion der Visualisierung, Gestaltung und Erprobung der Menschenzeit ergänzt wird.


Höchste Zeit, dass ein Buch über das Zeitalter des Menschen geschrieben wurde? Oder doch überflüssige Zeit, mit der Lektüre einen Teil seiner persönlichen Menschenzeit zu opfern? Dem ökologischen Zeitgeist entspricht das Buch „Menschenzeit“ von Christian Schwägerl jedenfalls nicht, es ist Zeitverschwendung höchstens für diejenigen, die sich bereits eine völlig festzementierte Meinung dazu gebildet haben, wie wir in Zukunft mit unserem Planeten weitermachen können.

Die Richtung, so scheint es, gibt Schwägerl gleich mit dem Untertitel vor:
Zerstören oder gestalten? Das ist natürlich zum einen rhetorisch gemeint, denn selbstverständlich zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch, dass wir eben nicht zerstören können, ohne den Ast abzusägen, auf dem wir sitzen.  Aber gestalten als Alternative? Das klingt nach der oft verteufelten „Adaptation“, also der Anpassung an die eh nicht mehr aufzuhaltende Umweltzerstörung mit technischen Mitteln. Gutmenschen lieben statt dessen die „Mitigation“, also die Vermeidung von Umweltrisiken.  Schrieb Schwägerl eine Fibel für technophilen Größenwahn, für diejenigen, die meinen, die Erde sei genügend verstanden, so dass man sie nun komplett ingenieursmäßig steuern könne? Agrogentechnik, Geoengineering und molekularbiologische Menschenoptimierung werden die Welt schon retten?

Wer nur kursorisch durchs Buch blättert, könnte diesen Eindruck vielleicht gewinnen. Schon das erste Kapitel heißt „die künstliche Erde“. In Gentechnik sieht Schwägerl tatsächlich eine wesentliche Möglichkeit, künftig 9 Milliarden Menschen zu ernähren.  Selbst „intelligente Gase“ in die Atmosphäre zu pumpen, kann sich Schwägerl grundsätzlich vorstellen und ja, er denkt  sogar, dass es zum Standard werden würde, Gene des Menschen stillzulegen oder anzuwerfen.  Und am Schluss skizziert er sogar noch einen neuen Menschen, der, wann auch immer, dem Homo sapiens nachfolgen könnte.

Wer das Buch komplett in eine Science-fiction-Ecke stellen möchte, hat das Cover nicht ausführlich genug studiert. Dort findet sich nämlich eine Zeichnung des französischen Künstlers Jean de Gourmot aus dem Jahr 1575, in welcher der Weltbeherrscher Mensch als Narr porträtiert wird. Und tatsächlich, das Buch ist auch voll von der Notwendigkeit zu Vermeidungstrategien: weg von fossilen Energien, Effizienzsteigerung und Lebensstiländerung. Allen voran weg vom Fleisch. Fleischverzehr als Ausnahme, als Fest, vielleicht sogar mit säkularen Riten: Habewohlgelebt-Zeremonien vor dem Schlachten und Verzehr von Tieren, die der Konsument persönlich kannte.

Schwägerl verbindet und verwebt die Gegenpole von Mäßigung und Technologiegläubigkeit nicht zu einem Einheitsgrau, sondern zu einem vielfarbigen Fleckenteppich, der schon in seiner Buntheit und Sprache fasziniert. Dem Buch merkt man an, was der Autor meint, wenn er sagt, dass es den Menschen als solchen nicht gibt, sondern dass die bald sieben Milliarden Individuen dieser Spezies mit ihren Gehirnen eine Vielfalt an Gedanken, Träumen, Wissen und Ideen generieren, die es mit der Vielfalt des Regenwalds durchaus aufnehmen kann. Und hier sind wir beim Grundtenor des Buches. Es ist trotz schonungsloser Bestandsaufnahme der Zerstörungskraft des Menschen ein durch und durch optimistisches Buch. Der Autor sieht Wissenschaft als die wesentliche Kultur des Menschen an, er findet sie schon in den Anfängen der menschlichen Kultur. Schon der Urmensch, der die besten Samen nach Versuch und Irrtum auswählte, war ein experimentierender Wissenschaftler. Heute ist es Craig Venter, dem er vieles zutraut, den er aber auch indirekt kritisiert, da er sich von der Erdölindustrie sponsern lässt.

Wissenschaft zur Rettung der Welt, aber eben reflektiert, eingebunden ins Tagesgeschehen, partizipativ und differenziert in möglichst allen Bereichen. Schwägerl ist durchdrungen vom Humboldtschen Gedanken nach Einheit von Wissenschaft und Kultur, von Körper und Geist. Die Vielfalt des Lebens sieht er wichtig für die Wahrnehmung, Zufriedenheit und Kreativität des Menschen. Humboldt drückte dies so aus: „Die Einsicht in den Weltorganismus erzeugt geistigen Genuss und innere Freiheit“. Bemerkenswert, wie Schwägerl daher den Dualismus der Kirchen ob dessen Natur- und Körperfeindlichkeit geißelt, aber auch im materialistischen Monismus keinen Gefallen findet.
Nein, Schwägerl ist Holist, er sieht, wie hinderlich für ein Wissensverständnis die Gegensätze von Körper und Seele, diesseits und jenseits, Natur und Kultur, oder Schöpfer und Schöpfung sind und plädiert für deren Verbindung. Dabei ist er weit davon entfernt, Religionen abschaffen zu wollen. Er hält Religionen eigentlich für ideal gegen Kurzfristdenken, denn sie stabilisieren Lebensziele über Jahrzehnte und Werte sogar über Jahrhunderte. Aber materielles, molekulares und animalisches als moralisch schlecht zu bewerten, die Erde nur als Vorraum, Sinnestäuschung oder Ablenkung zu sehen, trägt nicht dazu bei, Verantwortung für den „Weltorganismus“ zu übernehmen. Religionen könnten sogar viel dazu beitragen, aber das Beten sei in Wünschen übergegangen, das Finanzsystem ein moderner Ablasshandel und apokalyptische Vorstellungen sowie kalvinistische Kurzzeitlebensweise kontraproduktiv.  Er wünscht sich einen grünen Papst, der ohne Papamobil durch die Lande ziehe, am besten um die ganze Welt wandert und mit den Menschen darüber redet, was es bedeutet, dass wir uns nun die Erde untertan gemacht haben.

Aber trotz allen Wissenschaftspositivismus’ zielt Schwägerl mit seiner Kritik auch auf die heutige Wissenschaft. Eine Aufspaltung in Natur- und Geisteswissenschaften sei zu bequem. Und sich gar anzumaßen, die Natur nur naturwissenschaftlich verstehen zu können, helfe auch nicht: die Natur ist keine Maschine, die heutige Neurobiologie sei zu materialistisch.  Auch hier sei ein Verschmelzen angebracht. Eben auch ganzheitlich. Und aus einem ganzheitlichen Ansatz könne sogar eine „Neurobiologie der Naturverbundenheit“ generiert werden – der Mensch als Teil der Natur, ja, aber eben auch Gärtner der Natur, allerdings eben humboldtianisch: nachhaltigen Wohlstand gibt es vor allem aus dem Hineindenken in die Natur, Herausnehmen allein kann nicht funktionieren.

Hier setzt der Autor mit dem ein, was er Biofuturismus nennt. Das beginnt mit einem Blick in die Vergangenheit. Der Autor wirft neue Aspekte in die Diskussion um ökologische Fußabdrücke, um Gemeinsinn, Gerechtigkeit, die unerwartet sind. Baron d’Holbach meinte schon 1770, dass sich die Rechte des Menschen über seine Mitgeschöpfe nur auf die Glückseligkeit gründen können, die er diesen selbst gewährt. Aus dieser tief antimaterialistischen Haltung leitet Schwägerl dennoch eine freie Marktwirtschaft ab. Nichts liegt ihm ferner als eine irgendwie geartete „Ökodiktatur“.  Freie Marktwirtschaft ja, aber nur, wenn alle Verursacher- und Folgekosten dabei eingespeist sind. Es geht darum, so zu leben und Produkte so zu bepreisen, dass der Mensch nicht nur keine Spur der Zerstörung hinterlässt, sondern dass vielmehr sein Geld dazu dient, technologisch mit den Ökosystemen der Natur zu wachsen statt gegen sie.  Natürlich müssen sich dazu Werte weiter ändern. Freiheit kann nur durch positiven Verzicht verstehen, einem neuen Individualismus traut Schwägerl hier viel zu.

Vielleicht hätte das Buch hier aufhören können. Aber Schwägerl wird nun vollends, und ganz positiv zum Futuristen. Er skizziert einen neuen, auf Wissenschaft aufbauenden Jugendstil. Er schwärmt von abfallfreien, je nach Bedarf neu zusammensetzbaren Bioprodukten, von einer neuen Nachhaltigkeitstechnik, von einem neuen Kunstgefühl, in dem sich Wissenschaft und Kultur treffen. Die Wissenschaft muss die Gebrauchstechnik und die Weltdaten liefern, aber im Worst Case auch die Notmaßnahmen bereitstellen. Nur deshalb ist er dafür, dass auch Geoengineering, also insbesondere das Einblasen von Schmutzpartikeln in die Atmosphäre zur Temperaturreduktion erforscht werden müsse. Zu alle dem braucht es viel Geld. Zum ersten Mal in einem derartigen Zukunftsbuch lese ich hierzu neues über die Alten. Die Wissenschaft hat erkannt, dass das Gehirn bis ins hohe Alter plastisch und dynamisch bleiben kann. Die Gesellschaft braucht diese Altersweisheit, jedoch keine Altersegoisten, die sich auf ihrem Wohlstand ausruhen.
Wer, wenn nicht die Alten, so sein Credo, könnte denn Verantwortung für die junge Generation übernehmen, etwas zurückgeben von dem materiellen Reichtum, der eben auch durch, wenn auch oft unbewusste, Ausbeutung der Natur erreicht wurde.

Was eine Gesellschaft leisten könnte, die sich auf Langfristigkeit trainiert und ihre Ressourcen in den Dienst eines schonenden Umgangs mit der Erde stellt, beschreibt Schwägerl in Bildern, die heute noch fremd anmuten: China zwingt mit scharfen Grenzwertvorgaben Europa in einen Wettkampf zu Umwelttechnologien, ergrünte Städte produzieren ihre eigenen Lebensmittel und generieren hohe Artenvielfalt. Die islamische Welt hat sich auf ihre wissenschaftlichen Großtaten zurückbesonnen und gestaltet ein „bionisches Kalifat“. Kleidung besteht aus verflüssigbaren biotechnischen Materialien, als weite Sonderwirtschaftsflächen werden Evolutionsgebiete ausgewiesen. Gene in Datenbanken sind öffentlich zugänglich, die Nutzung wird in demokratischen Entscheidungsprozessen geregelt. iBusse und iTrains, grüne True Counter Märkte, Wiederaufbaumärkte, wo echte Preise bezahlt werden, florieren. Autos und größere Elektrogeräte werden nur noch bei Bedarf gemietet, die Kreislaufwirtschaft ist ein Renner. Statt Roter Listen der bedrohten Arten gibt es grüne Listen der Wiederkehr, Aquakulturen flottieren mit Windkraft über die Meere, die Grünhelme der vereinten Nationen regeln eventuelle Krisenfälle, die Weltbevölkerung befindet sich auf einem Schrumpfungspfad. Erwerbsarbeit, Ämter und Ehrenämter sind ein Leben lang durchmischt, die Blütezeit der Wissenschaft hat begonnen.  Natürlich weiß Schwägerl auch, dass er hier bei Visionen, vielleicht auch nur Träumen angelangt ist, entsprechend bezeichnet er eines der Unterkapitel auch als Blütenträume. 

Wem das aber nun schon alles zuviel wurde, sollte vielleicht auf das letzte Kapitel verzichten. Hier wird der Visionär und Biofuturist nun doch ein bisschen zum Utopisten. Er skizziert, wie gegebenenfalls eine neue Menschenart nach dem letzten Individuum des Homo sapiens leben und handeln könnte. Das sind natürlich Spekulationen, aber um die geht es Schwägerl nicht wirklich. Er will nur skizzieren, dass das Ende keine Apokalypse sein muss – zu viel wurde bislang mit dem Beschwören von Apokalypsen verhindert. Er nennt das Schlusskapitel entsprechend eben nicht „Weltuntergang“ sondern „Weltaufgang.“ Ob ihm hier jeder folgen mag, ob wir nach der Lektüre des Buchs tatsächlich unser Langzeitdenken schon so geübt haben, dass wir uns auch einen Menschenzeit 2.0 mit einer anderen Menschenart vorstellen können, muss jeder Leser selbst herausfinden.

Als Fazit stelle ich fest, dass das Buch eine kleine Sensation ist. Wissenschaftlich akribisch recherchiert und mit geeigneten Literaturzitaten versehen ist das Buch ein positives, differenziertes Werk, welches nicht wie viele andere nur lamentiert und fordert. Es kann, so meine ich, vielmehr Lust machen auf eine von uns allen gestaltete Transformation in die Zukunft, auf eine Menschenzeit, in der das Prinzip Verantwortung für die Zukunft ins Grundgesetz aufgenommen wurde und von jedermann wie selbstverständlich akzeptiert wird. Hervorzuheben ist vor allem die Schwägerl’sche Ganzheitlichkeit, nicht nur im naturwissenschaftlichen Ansatz, der im Unterschied zu ähnlichen Zukunftsbüchern nicht nur die Klimafrage, sondern auch die Biodiversität, die Landwirtschaft mit ins Visier nimmt, sondern eben Natur- und Kulturwissenschaften zu einer tatsächlichen Transformationswissenschaft verschmelzen möchte. Vielleicht wird der Leser nicht in allen Bereichen folgen wollen oder können, aber das Buch ist eine Fundgrube für viele neue Ideen und Ansätze in Sachen Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Es ist zudem stilistisch hervorragend geschrieben und bereitet vollen Lesegenuss. Vor allem aber ist es ein subtiles, reflektiertes Mutmacherbuch, und das können Gesellschaft und Politik derzeit wirklich dringend gebrauchen.

Und zum Schluss noch eine persönliche Vision: Müsste man sich die neue Menschenzeit nicht noch besser veranschaulichen, als dies in einem Buch möglich ist? Wie wäre es mit einer museumssparten-übergreifenden, wissenschaftsbasierten, vielleicht sogar partizipativen In- und Outdoor-Ausstellung, etwa unter dem Motto: „Das Anthropozän - Kultur, Technik und Natur für die neue Menschenzeit“?  Hier könnten, vielleicht auf dem ehemaligen Flughafen Tempelhof sowie unter Einbeziehung und entsprechender Gestaltung einer Internationalen Bauausstellung sowie einer Internationalen Garten- und Ackerbauausstellung Zukunftsvisionen für neue, nachhaltige und ressourcenschonende Lebensweisen und Kulturtechniken visionär dargestellt werden und Berlin gleichermaßen als potentieller Motor und potentielles Beispiel für eine entsprechende Entwicklung diskutiert werden. 




Prof. Dr. Reinhold Leinfelder ist Generaldirektor des Museums für Naturkunde Berlin und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU)

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weitere Informationen zum Buch und zur Menschenzeit:

Donnerstag, 4. November 2010

Das Anthropozän am Museum für Naturkunde Berlin

von Reinhold Leinfelder

Das Buch "Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten" wurde Ende September 2010 am Museum für Naturkunde Berlin erstmalig vorgestellt. Der Name des Buchs lehnt sich an den Vorschlag einer Wissenschaftlergruppe um Chemie-Nobelpreisträger Paul Crutzen an, das durch menschliche Prägung bestimmte Zeitalter der Erde als geologische Zeit des Anthropozäns zu bezeichnen.

Der Wissenschaftsautor Christian Schwägerl schrieb ein Buch, welches nicht nur als ganz besonderer Beitrag zum Verhältnis zwischen biologischer und kultureller Evolution angesehen kann, sondern welches nach dem für viele überraschenden Erfolg des UN-Gipfels zur Biologischen Vielfalt in Nagoya, Japan als visionäres Buch für die zukünftige "Handhabung" unseres Planeten dienen kann.  Rezensionen zum Buch werden im heutigen  Beitrag "Menschenzeit - Humboldt reloaded" des Vielfalter-Blogs der Leibniz-Gemeinschaft vorgestellt, nachfolgend finden Sie mein Grußwort sowie einen Filmbeitrag zur Buchvorstellung im Museum für Naturkunde.

Nach dem Lesen des visionären Buches und der Vorstellung in unserem Hause hatte ich sofort eine eigene Vision: eine transdisziplinären Ausstellung "Anthropozän - Natur und Kultur in der neuen Menschenzeit", für die Museen für Naturkunde, Technik, Kunst- und Kulturgeschichte eng mit anderen Institutionen, aber auch mit Wissenschaft, Medien und Gesellschaft zusammenarbeiten, um Visionen anschaubar und greifbar zu machen. Ein bisschen Menschenzeit wird bis zu einer Realisierung allerdings noch vergehen müssen. Anlässlich des UN-Erdgipfels Rio 2012 oder zum Start für ein Humboldt-Forum, in dem Sammlungen und Wissenschaft zusammenfänden, wäre dies doch eine besonders geeignete Form: Humboldt reloaded.



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Grußwort von Reinhold Leinfelder zur Buchvorstellung am 27.9.2010 im Museum für Naturkunde (leicht gekürzt)

Als Generaldirektor des Museums für Naturkunde, aber auch ganz persönlich mich freue ich mich sehr, dass so viele zur heutigen Buchvorstellung gekommen sind und möchte Sie hierzu ganz herzlich in unserem Sauriersaal begrüßen.

Ich freue mich überaus, dass fast alle für das Thema wichtige gesellschaftlichen Gruppen hochkarätig vertreten sind, darunter:
  • Die UN, vertreten durch ihren UNEP Exekutivsekretär Achim Steiner, der ja auch als Protagonist heute abend auftritt,
  • Vertreter aus Botschaften, Ministerien, Parlamenten, Parteien, 
  • Vertreter  aus Umwelt- und Naturschutzverbänden und Stiftungen,
  • Kollegen aus dem WBGU, einem der Beratungsorgane der Bundesregierung
  • Besonders wichtig für das Thema ist aber auch, dass etliche Vertreter von  Wissenschaft und Wissenschaftsorganisationen gekommen sind.

  • Und als Multiplikatoren für die Wissenschaft liegen uns dieVertreter der Text, Bild- und TV-Medien  und der Verlage ganz besonders am Herzen. ..... 

Links: Christian Schwägerl, rechts Achim Steiner
Darunter insbesondere unser Autor, Herr Christian Schwägerl, der Ihnen natürlich als renommierter und engagierter Wissenschaftsjournalist sehr bekannt ist. Er ist so bescheiden, dass er seine früheren und derzeitigen Tätigkeiten am liebsten gar nicht beleuchtet sähe. Ein bisschen, also unvollständig, muss es aber doch sein: Er begann bei einer Lokalzeitung, wurde rasch Preisträger eines Geschichtswettbewerbs des Bundespräsidenten, konnte mit diesem Stipendium eine Recherchereise nach Neuseeland machen, ging an die Deutsche Journalistenschule in München, war dann freier Mitarbeiter bei GEO und der Süddeutscher Zeitung, hat parallel noch in Berlin und England studiert und mit einem Masterabschluss Biodiversität  abgeschlossen. Bei der FAZ war er dann insbesondere für die Schwerpunktthemen Wissenschaft, Biopolitik und Forschungspolitik zuständig, seit 2008 nun beim Spiegel für die Themen Wissenschaft, Umwelt und Energie. Diverse Preise, wie schon sehr früh die Herbert-Weichmann-Medaille für journalistische Talente oder den Georg-Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus zeichnen ihn weiterhin aus.

Aber ich sollte Ihnen wohl noch eine Frage beantworten. Passt es denn, eine Buchvorstellung zu einem Zukunftsthema hier im Museum für Naturkunde durchzuführen?
  • Sind die Saurier aus längstvergangenen Zeiten da nicht eher unpassend?
  • Oder sind sie nicht gerade eine Mahnung, damit wir nicht genauso aussterben?
Nein, so plakativ und populistisch sehen wir die Zusammenhänge nicht.
 Viel wichtiger waren uns folgende Punkte (ohne der Buchvorstellung zu sehr vorgreifen zu wollen):
  • Das Buch von Christian Schwägerl behandelt Zeit, Zeitdimensionen, Beschleunigungen, Entschleunigungen, richtige und falsche Zeitpunkte. Das passt wunderbar zu uns. Für Zeitabläufe und deren Dynamik fühlen sich gerade auch Museen wie wir zuständig:

  • Wir sehen unsere Sammlungen mit ihren mehr als 30 Millionen Objekten als Teil des Gedächtnis des Lebens und der Erde, ohne Gedächtnis kann man nicht denken, auch nicht vordenken, auch das kommt deutlich im Buch raus.

  • Aber Gedächtnis allein reicht nicht, man braucht auch ein Gehirn. Und das Gehirn unserer Erde sind die Prozesse der Erde und natürlich des Lebens. Und wie dieses Gehirn funktioniert, wie die Neuronen und Synapsen vernetzt sind, reagieren, sich neu ausbilden und funktionieren, das erforschen eben gerade auch solche Häuser wie unseres, und auch das ist ein überaus wesentliches Thema im Buch.

  • Und dann vielleicht das wichtigste Credo von Christian Schwägerl. 
Seine Abneigung gegen Dualismus im klassischen Sinne machte auch mich  nachdenklich, er favorisiert allerdings keinen  Monismus a la Haeckel, sondern einen Humboldt'schen Holismus, in dem die Welten von Kultur und Natur, von Geist und Körper miteinander verschmelzen, ein Ganzes bilden. Und das ist natürlich auch wieder der Auftrag von Häusern wie unserem, Naturwissen nicht nur zu generieren, sondern zu implementieren, Zusammenhänge aufzuzeigen, Wege anzureißen, mit der Gesellschaft zu verbinden.
Dass wir derzeit einen Forschungsbereich Wissenstransfer und Wissenskommunikation aufbauen und professionalisieren, daran sind wohl auch Masterminds wie Christian Schwägerl schuld.

Gerade weil uns der Dialog mit Gesellschaft und Politik so wichtig ist,  freue ich mich überaus, dass Achim Steiner nun schon das zweite Mal in diesem Jahr bei uns im Museum für Naturkunde ist. Zuerst im Januar bei der Eröffnung des UN-Jahrs der Biologischen Vielfalt mit der Bundeskanzlerin, und nun eben jetzt anlässlich der Vorstellung der "Menschenzeit".

Achim Steiner muss natürlich nicht wirklich vorgestellt werden, deshalb hier nur ganz kurz ein paar Blitzlichter:
  • geboren und aufgewachsen in Brasilien
  • Studium der Philosophie, Politik, Ökonomie und Regionalplanung in Oxford und London
  • Tätigkeiten unter anderem in Berlin am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik soe an der Harward Business School
  • Arbeitete dann u.a. für die weltgrößte Naturschutzorganisation IUCN in Washington D.C. und Asien,
  • 1998 Generalsekretär der World Commission on Dams, danach ab 2001 Generaldirektor der IUCN.
  • Seit 2006 Exekutivdirektor der UNEP, als Nachfolger von Klaus Töpfer. Gerade zum zweiten Mal von der UN-Generalversammlung gewählt.

Christian Schwägerl hat ihn übrigens auch schon charakterisiert, etwa in einem Artikel vor dem UN-Klimagipfel in Kopenhagen. Er nannte ihn dort den "Sisyphus aus Nairobi". Das könnte vielleicht nach Kleinklein, nach vergeblicher Liebesmüh klingen, wo wir doch alle eher an den großen Visionen und deren direkter Umsetzungen arbeiten (– aber auch mich hat da Schwägerl übrigens erwischt, als er mich einmal in einem Artikel als "Humboldts Notarzt" bezeichnete, also einen, der ebenfalls wohl nur dazu da ist, das Schlimmste inkrementell zu reparieren – ).
Doch Schwägerl meint es anders. Es  geht nämlich nur so – Visionen und harte tägliche Arbeit an diesen Visionen zu ihrer Umsetzung müssen zusammenkommen.

Heute wird sicherlich ein Abend der Visionen sein, aber eben auch ein Abend, an dem Christian Schwägerl sich auch ganz und gar nicht drückt vor der Frage, wie wir diese Visionen umsetzen können.

Ich wünsche uns allen einen spannenden Abend.
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von links nach recht: Tissy Bruns, Christian Schwägerl,
Achim Steiner, Reinhold Leinfelder
Weiteres Programm:
  • Laudation durch Achim Steiner, UNEP-Exekutivsekretär
  • Aspekte des Buches durch den Buchautor Christian Schwägerl
  • gemeinsame Podiumsdiskussion: Christian Schwägerl, Achim Steiner, Reinhold Leinfelder, Leitung Tissy Bruns, Tagesspiegel
  • Führung durch die Alkoholsammlung als Teil des "Gedächtnisses des Lebens" im wiederaufgebauten Ostflügel.


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Filmdokumentation der Buchvorstellung im Museum für Naturkunde 






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Christian Schwägerl: Menschenzeit. Zerstören oder gestalten? Die entscheidende Epoche unseres Planeten. Riemann, München 2010. 320 Seiten, 19,95 Euro.


Hinweise im Museumskontext: 
  •  Das Museum für Naturkunde Berlin kommt im Buch ebenfalls vor. Der Autor sieht es als eine der letzten Bastionen für die Wissenschaft der Taxonomie. Laut E.O. Wilson gibt es etwa 6.000 Taxonomen auf der Welt, laut Schwägerl wären 60.000 oder gar 600.000 notwendig. Er kritisiert, dass die "Manager der Taxonomie" hier noch zu wenig wahrnehmbar widersprochen hätten.

  • Schwägerl ist durchaus ein Fan des Wiederaufbaus des Berliner Stadtschlosses, allerdings nicht als Museum, sondern als transdisziplinäres Anthropozän-Forschungsinstitut. Das wäre doch was!

  • Schwägerl hat sein Buch durch einen weiteren Essay ergänzt, welches er auf seiner Webseite zur Verfügung stellt. Es nennt sich Morgenland. Am 22.4.2025 präsentieren hohe Vertreter aus Saudi Arabien im Berliner Museum für Naturkunde ein Gesamtkonzept für die neue, nachhaltige Menschenzeit "„Unsere Zivilisation wird nicht mehr auf der Erde lasten, sondern leicht sein wie diese Feder. Wir schenken Ihnen und unseren Familien den Beginn des Ersten Bionischen Kalifats.“     

    > zum Artikel Morgenland

    > zu den Buchrezensionen, u.a. von RL, zusammengetragen auf dem Vielfalter-Blog

    > zur "Menschenzeit"-Webseite von Christian Schwägerl


      Dienstag, 2. November 2010

      Ardipithecus und sein Erforscher - Der Schrecken der Schimpansenforscher


      In der letzten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 31.10.2010 findet sich ein lesenswerter Bericht von Ulf von Rauchhaupt zum "Ardipithecus"-Erforscher Tim White.

      Nachfolgend ein Ausschnitt:

      "Allerdings kommt die Voreiligkeit dieses und anderer Kollegen White nun sehr gelegen, um bei Vorträge das wichtigste Ergebnis der Analyse von Ardis Skelett zu unterstreichen: dass dieses Wesen eben gerade keinerlei Ähnlichkeit mit einem Schimpansen hatte.

      Dabei steht Ardipithecus uns zeitlich weniger nah als dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Mensch und Schimpanse, der vor sechs oder sieben Millionen Jahren gelebt haben muss. Trotzdem hatte Ardi, anders als Schimpansen oder andere große Menschenaffen, gerade Füße - nur die großen Zehen waren opponierbar. Die Dame war demnach wohl eine gute, aber langsame Kletterin, die ihre Füße in den Bäumen nicht nach Schimpansenart wie ein weiteres Paar Hände einsetzen konnte. Dafür hatte sie ein Becken, dass sie dazu befähigte, weite Strecken auf zwei Beinen zu laufen. Auch das Gebiss hat mit dem von Schimpansen nichts zu tun. Vor allem durch die kleinen Eckzähne - auch bei Ardipithecus-Männern, von denen ebenfalls Zähne gefunden wurden - ähnelt es viel mehr dem späterer Hominiden unserer Abstammungslinie als dem heutiger Menschenaffen.

      "Wir hatten uns immer vorgestellt, je weiter wir in der Zeit zurückgehen, desto schimpansenähnlicher müssen unsere Vorfahren gewesen sein", sagt White. "Dabei hat uns schon Darwin vor diesem Trugschluss gewarnt." Tatsächlich stellt sich jetzt heraus, was nach Darwin zu erwarten gewesen wäre: Heutige Schimpansen haben sich in sechs Millionen Jahren Evolution unabhängig von uns entwickelt und dabei ganz andere Anpassungen ausgebildet. Ihre Fingerknochen, ihre vorderen Zähne, ihr kurzer Rücken, ihre Füße, all das habe mit dem Wesen, von dem der Mensch abstammt, nichts zu tun, sagt White. Es sind Anpassungen an die speziellen Lebensräume der Schimpansen in tropischen Wäldern. Aber wenn das so ist, betont White, dann gibt es keinen Grund für die Annahme, das Verhalten der Schimpansen, ihre Sozialstruktur oder ihr Paarungsverhalten seien etwas anderes als solche Anpassungen. Entsprechend wenig habe all das mit unseren stammesgeschichtlichen Vorfahren zu tun, geschweige denn, mag man ergänzen, mit uns Menschen.
      "Die Schimpansenforscher haben sich darüber ziemlich geärgert", sagt White. "Sie glauben eben mit dem Schimpansen ein Modell für einen frühen Hominiden zu haben." Aber nach White sind sie das weder in ihrer Ökologie noch in ihrer Ernährung, noch in ihrer Fortbewegungsart, noch anatomisch. Warum sollten sie es dann im Verhalten sein?

      Genau diese Hoffnung aber scheinen etliche Forscher gehegt zu haben. "Ein sehr berühmter Primatologe hat mich kurz nach unserer Veröffentlichung in Science auf einer Tagung der Royal Society heftig angegriffen", erinnert sich White. "Und in der Kaffeepause hat er mir dann gesagt, ich hätte die Forschung an Schimpansen um 30 Jahre zurückgeworfen." White ringt noch immer mit der Fassung. "Ja was hätte ich denn tun sollen? Ardis Fossilien wieder verbuddeln? Gar nicht erst graben? Oder vielleicht ein paar Schimpansenzähne dazulegen?"
      Seiner Ansicht nach ist hier etwas schiefgelaufen, nachdem sich durch die Molekulargenetik herausgestellt hatte, dass die Schimpansen unsere nächsten Verwandten sind. Mit einer genetischen Übereinstimmung von 98 Prozent schien diese Verwandtschaft sogar quantifiziert. "Dabei weiß niemand, was diese gemittelte Zahl biologisch eigentlich aussagen soll", sagt White und weist darauf hin, dass etwa der Fuß eines Gorillas dem des Menschen ähnlicher ist als der eines Schimpansen, nähere genetische Verwandtschaft hin oder her. "Trotzdem kamen Schimpansologen und erzählten den Agenturen, die Forschungsgelder verteilen, man müsse Schimpansen erforschen, um etwas über die evolutionäre Herkunft des Menschen zu erfahren. Und wenn wir die Schimpansen ausrotten, würden wir das nie erfahren."
      Dabei will White nicht falsch verstanden werden. "Ich bin doch nicht gegen die Erforschung von Schimpansen und schon gar nicht dagegen, sie vor dem Aussterben zu bewahren." Von der These, hier sei etwas über unsere evolutionäre Vergangenheit zu erfahren, hält er trotzdem kaum mehr als von den Knochenkerben auf dem Nature-Titelbild. Er kann es aber höflicher formulieren: "Die Vergangenheit ist ein anderer Ort", sagt er und beruft sich abermals auf Darwin. "Man kann sie nur aus ihren eigenen Bedingungen heraus verstehen."

      > zum kompletten Artikel (online-version vom 2.11.2010)

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      > früherer Post (vom 3.10.2009) zu Ardipithecus auf diesem Blog

      Dienstag, 26. Oktober 2010

      Ulrich Schnabel erhält Grüter-Preis für Wissenschaftsvermittlung


      Werner und Inge Grüter-Preis für gelungene Wissenschaftsvermittlung geht in diesem Jahr an Ulrich Schnabel


      Der Wissenschaftsjournalist erhält den mit € 10.000,00 dotierten Preis für sein erfolgreiches Wir­ken, durch seine Schriften zu hochaktuellen Themen mit disziplinenübergreifender Gesamtschau aus Natur-und Geisteswissenschaften fundierte Urteile zu ermöglichen.

      Ulrich Schnabel studierte Physik und Publizistik an der TU Karlsruhe und der FU Berlin. Nach einigen Auslands­aufenthalten arbeitet er seit 1993 als Re­dakteur im Ressort Wissen der Zeit in seiner Wahlheimat Hamburg. Er zählt zu den Mitbegründern des Bereichs „Sach­buch“ in der Zeit. Seit 2005 ist er vor­nehmlich als Autor tätig. Seine Arbeit wurde 2006 mit dem Georg von Holz­brinck Preis für Wissenschafts­journalismus ausgezeichnet. Hervorzu­heben ist sein Buch „Die Vermessung des Glaubens“, welches 2009 zum „Wis­senschaftsbuch des Jahres“ gewählt wor­den ist.


      Mit dem Preis werden jedes Jahr hervorragende Arbeiten deutscher Sprache auf naturwissen­schaftlichen Gebieten ausgezeichnet, die das Ziel haben, wissenschaftliche Ergebnisse über die Grenzen der jeweiligen Disziplinen hinaus einer breiteren Öffentlichkeit bekannt zu machen. Bevorzugt gefördert werden dabei die Fachrichtungen biologische Evolution, Paläontologie, Meeresbiologie, Botanik und Kosmologie.

      Im Rahmen der Preisübergabe am 27.Oktober 2010, 18:30 Uhr, im Museum Mensch und Natur München-Nymphenburg, wird der Preisträger folgenden Kurzvortrag halten:

      Die Vermessung des Glaubens und andere Unmöglichkeiten. Wie man sich als Wissenschafts­journalist zwischen alle Stühle setzt.

      Nach der Begrüßung durch den Leiter des Museum Mensch und Natur München, Herrn Dr. Michael Apel, und dem Beitrag mit dem Titel „Wissenschaft und Öffentlichkeit – gemeinnütziges Stiften zur Bildungsförderung“ von dem Stifter, Herr Professor Dr. med. Werner Grüter, hält Herr Professor Dr. Wolfgang Prinz, Direktor am Max-Planck-Institut für Kognitions-und Neurowissenschaften in Leipzig, die Laudatio auf Herrn Ulrich Schnabel.
      Anschließend wird der Preis übergeben.

      Fotos und ein Bericht über die Preisverleihung können nach der Veranstaltung bei der Stiftung angefordert werden und finden sich im Internet unter www.grueter-stiftung.de
      Pressekontakt: Dr. Veronika Hofmann Maecenata Management GmbH Herzogstrasse 60 D-80803 München Tel.: +49 89 284452 Fax: +49 89 283774
      vh@maecenata.eu Info: www.maecenata.eu

      Beirat: Prof. Dr. med. Werner Grüter (Vorsitz), Prof. Dr. rer. nat. Reinhold Leinfelder (stellv. Vorsitz), Prof. Dr. rer. nat. Jürke Grau, Prof. Dr. rer. nat. Gerhard Haszprunar Kontakt: Maecenata Management GmbH, Herzogstr. 60, 80803 München, Tel. +49-89-28 44 52, Fax: +49-89-28 37 74; E-mail: info@grueter-stiftung.de; info: www.grueter-stiftung.de
       

      Bisherige Preisträger seit 1996: Matthias Glaubrecht, Peter Wellnhofer, Volker Sommer, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Deutsche Koordinierungsgruppe zum Internationalen Jahr des Riffs (Vorsitz: Reinhold Leinfelder), Friedemann Schrenk, Klaus Mattheck, Uwe George, Bernhard Kegel, Harald Lesch, Redaktionsteam der Wissenschaftsreihe „Quarks & Co.“ des WDR-Fernsehens (Ranga Yogeshwar und Mitarbeiter), Günter Bräuer, Josef Reichholf, Patrick Illinger, Christian Wild, Philipe Havlik, Martin Meister, Ulf von Rauchhaupt, Ulrich Schnabel

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      Weitere Meldung hierzu in der Augsburger Allgemeinen

      Samstag, 16. Oktober 2010

      Raubmilben, Mondmeteoriten, Gallensteine - Wunderkammern des Wissens

      von Hubert Filser

      Raubmilben, Mondmeteoriten, Gallensteine: Was tun mit den oft bizarren und manchmal wertvollen Sammlungen, die Amateure und Wissenschaftler hinterlassen?


      In dieser Geschichte geht es um Raubmilben, um rußige Steine, für die auf Märkten in Westafrika eine Million Euro gezahlt werden, um einen Berliner Musiker, der in Asien Schmetterlinge sucht, um einen Nobelpreisträger, der sein Lebenswerk in Gefahr sieht, und um die womöglich weltweit größte Ansammlung von Gallensteinen. Am Rande kommen ein abgeschnittener Elefantenfuß vor, der als Schirmständer diente, und ein Gürteltier, das nach seinem Ableben als Lampenschirm in einer Berliner Wohnung hing.

      Die Menschen, die hinter diesen Objekten stecken, verbindet eine tiefe Leidenschaft: Sie sind Wissenschaftler und Amateur-Forscher, die mit hohem finanziellen und zeitlichen Aufwand oft bemerkenswerte Sammlungen zusammentragen. Am Ende ihres Lebens oder ihrer Karriere stehen sie vor der Frage, was sie mit ihrem Schatz tun sollen. 


      > im Originalartikel der Süddeutschen Zeitung vom 16.10.10 weiterlesen. 


      Blick in die Gallensteinsammlung des Berliner Medizinhistorischen Museums.
      Foto Widulin, Medizinhistor. Museum. Für großes Bild oben genannten Artikel aufrufen.


      Kommentar von Reinhold Leinfelder:

      Der Artikel von Hubert Filser behandelt  auch die wissenschaftliche Bedeutung von Sammlungen. Auc erwähnt er, dass sich der wissenschaftliche Wert von Objekten teilweise erst später erschließt, wenn vielleicht neue Methoden entwickelt wurden. So schreibt er auch "Deshalb ist es klug, die Schätze zu bewahren. 'Wir sind eine Art Hüter der Informationen, die in der Zukunft noch wertvoll sein können', sagt Nobelpreisträger Blumberg. Wer weiß, welche Erkrankung man einmal anhand seiner Blutproben-Sammlung untersuchen können wird?

      Filser schließt mit folgendem Kapitel zu der Gallenstein-Sammlung des Berliner Medizin-Historischen Museums: "Und deshalb sollte man auch die besondere Kollektion der Navena Widulin wertschätzen: Die Präparatorin im Medizin-Historischen Museum der Charité sammelt seit 13 Jahren Gallensteine, höchst bemerkenswerte Objekte aus dem menschlichen Körper, die mal aussehen wie Karamell-Bonbons, manchmal schillern, manchmal glatt sind, manchmal klein und kieselig sind, oder groß wie eine Kartoffel. In durchsichtigen Behältern hebt sie jeden Gallenstein auf, den sie bekommt. "Ich finde das faszinierend", sagt sie. "Mein Chef ist auch begeistert."
       

      In langen Reihen stehen die Behälter gestapelt, man könnte den Ort für ein Lager exquisiter Süßigkeiten halten. Vielleicht ist es auch der optischen Qualität zu verdanken, dass alle Menschen, die von der Gallenstein-Sammlung hören, Navena Widulin unterstützen, indem sie ihr Steine aus Gallenoperationen zuschicken. Inzwischen gibt es weltweit kein Museum, das eine größere Gallensteinsammlung hat. Was man wissenschaftlich damit anstellen soll, weiß keiner so genau."


      Mit dem allerletzten Satz, mit dem auch der Artikel schließt, scheint der Autor also (noch) keine wirklich wissenschaftliche Anwendung zu sehen. Wie wäre es mit folgender Idee, auch wenn ich kein Mediziner bin: wenn alle Patientendaten für die jeweiligen Gallensteine der Wissenschaft zur Verfügung stünden, wären die Gallensteine m.E eben auch eine wunderbare Forschungsressource. Es gibt ja unterschiedliche Typen von Gallensteinen, je nach unterschiedlichen Auslösern. Außerdem könnte man die Anteile der "Risikofaktoren" für Gallensteine vermutlich besser in den Griff bekommen. Die sogenannten 5F-Risikofakoren für Gallensteine lauten zumindest laut Wikipedia: female, fertile, forty, fat, fair, family. Auch dieses Beispiel zeigt also mal wieder, wie wichtig die Bedeutung der Metadaten rund um die Sammlungsobjekte sind. Erst damit erhalten sie wissenschaftlichen Wert.

       

      Donnerstag, 9. September 2010

      Ein Wunder und eine Wunderkammer - der wiederaufgebaute Ostflügel des Museums für Naturkunde

       von Reinhold Leinfelder, 9.9.2010, mit diversen Nachträgen, zuletzt am 25.9.2010

      Ein Wunder....

      So wie oben sah es etwa 60 Jahre aus
      (nur die Bäume in der Ruine wurden größer)


      .... war es wirklich nicht (obwohl dies ein Berliner Pfarrer tatsächlich augenzwinkernd so bezeichnete, denn er müsse das ja schon von Berufs wegen wissen), sondern vielmehr harte Überzeugungsarbeit, um die benötigten Baumittel zu erhalten. Aber es könnte eine moderne Wunderkammer werden - so jedenfalls bezeichnete heute die Berliner Morgenpost den nun wiederaufgebauten Ostflügel des Museums für Naturkunde Berlin.

      So oder so, heute ist jedenfalls ein schöner Tag, denn heute verschwand der letzte Teil des Fassadengerüsts am Ostflügel, der über 60 Jahren in Ruinen lag. Anlass für unseren Blog, die Wiederaufbaugeschichte dieser Beleg- und Forschungskammer für Evolution in einigen Bildern vorzustellen.


      Im Sommer 2006 kamen die Bäume weg


      Am 14.11.2006 erfolgte die symbolische Grundsteinlegung zum Wiederaufbau. Von links nach rechts: Architekt Roger Diener, Staatssekretär Dr. Hans-Gerhard Husung, Präsident der Humboldt-Universität Prof. Dr. Christoph Markschies, Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit, Generaldirektor des Museums Prof. Dr. Reinhold Leinfelder
      Was die Herren da in den Händen halten sind gerettete Originalkacheln aus der Ruine.
      Der eigentliche Baubeginn war jedoch erst am 21.1.2008.




      Zuerst wurde entkernt entkernt.
      So sah es im November 2007 aus.




      Und so im Juli 2008
      November 2008


      Dezember 2008

      Im Winter 2008/2009 war zwar nicht der Wurm drin, dafür der Fuchs. Und der war kein Präparat, sondern lebendig und schlau. Mal im südlichen, mal im nördlichen Teil, immer dort, wo schon neue Fenster drin waren. Und die hat er auch noch zerkratzt (was so ein Fuchs in den Fußballen mitträgt, macht nette Kratzer). Wir waren dennoch nicht sauer, zumal er sich dann doch freiwillig ein anderes Plätzchen zulegte.

      Im Mai 2009 sah es so aus.
      Am 27.5.2009 war Richtfest

      Im August 2009 waren wir in diesem Zustand
      Ab Juli 2010 kamen die maßgeschneidert vorgefertigten Betonguss-Bauteile an.

      Das ging flott von der Hand. Hier der Zustand am 15.7.2010
      Ab  6.9.2010 kam das Gerüst weg. Und dann ging's wie im Zeitraffer. Hier der Zustand am 8.9.2010, 8:45
      und hier am selben Tag um 17:20 Uhr. Plötzlich war alles aufgeräumt und grün (dank Rollrasen)
      Und am9.9.2010 war auch der letzte Gerüstteil weg. Hier gut zu sehen: Kontrast zwischen noch originalem, restaurierten Gebäudeteil und ergänzter, bewusst in anderem Material und Färbung gehaltener Ersatzfassade.
      Situation, 9.9.2010. Gut zu sehen ist das gelbbraune, restaurierte Originalgemäuer von 1889, die in grau gehaltene Ersatzfassade, sowie im Hintergrund der ebenfalls komplett restaurierte hellere Anbau des Ostflügels von 1917.
      Ein Stückchen Rasen fehlt noch. Im Hintergrund schimmert der sog. Nordbau durch die Bäume.

      Blick vom sog. Nordbau auf den Ostflügel. Stand 10.9.2010, 18:30.
      Nun ist auch der Rasen komplett
      zentraler Teil des modellartig ergänzten Teils. Foto © C. Richter, 13.9.2010


      Kurz zum Konzept: Was noch original an Bausubstanz erhalten war, wurde restauriert, was durch den Kriegsschaden komplett zerstört war, wurde bewusst durch ein als solches erkennbares Imitat aus Beton ergänzt (das waren Fertigbauteile, die vorgegossen wurden, so etwas ist noch nie in dieser Größe gemacht worden). Diese vorgegossenen Teile wurde dann am Schluss wie gigantische Legobausteine zusammengesetzt. Die wiederaufgebauten, vormals komplett zerstörten Bereiche wurden also konsequent mit anderen Farbe und anderer Materialität gestaltet, so gibt es auch keine Holzfensterrahmen in diesem Bereich. Alles ist hier aus Beton, der gewissermaßen eine Modellzeichnung der früheren Fassade liefert. Der neue Ostflügel stellt also einerseits eine Einheit dar, andererseits wird klar erkennbar, was original und was ergänzt ist.
      Nach diesem Konzept sind übrigens auch unsere Dinos aufgebaut. Was zu den Originalknochen ergänzt werden musste (weil ursprünglich nicht gefunden oder zerstört) ist dort auch in anderer Textur und etwas anderer Farbe gehalten, so dass Originalobjekt und Ergänzung leicht auseinandergehalten werden kann.
      Das Museum wurde 1810 gegründet, es war ursprünglich im Hauptgebäude der Berliner Universität (heute Humboldt-Universität) Unter den Linden untergebracht und zog 1889 in den extra für das Museum errichteten heutigen Bau um.

      Von der inneren Wunderkammer wird vor der Eröffnung am 14.9.2010 noch nicht alles verraten. Nur soviel: die komplette Nasssammlung des Museums ist nun dort über 6 Stockwerke verteilt untergebracht. Unter Nasssammlung verstehen wir Tierobjekte, die in Alkohol aufbewahrt werden. Dies erhält alle Gewebe sowie die DNA. Das Museum hat etwa 276.000 Gläser, mit ca. 1 Million Tieren in diesen Gläsern. (Insgesamt beherbergt das Museum mehr als 30 Millionen Sammlungsobjekte). Für die Alkoholfüllung sind 84.000 Liter Alkohol nötig. Das unterste Stockwerk wird als Forschungssammlung den Besuchern erstmalig zugänglich sein. Die ältesten dort aufbewahrten Sammlungen stammen aus dem 18. Jahrhundert.

      Links: noch ungefülltes Regalsystem im unteren Stockwerk des Ostflügels.
      Rechts: Computersimulation des gefüllten Regalsystems.
      13.9.2010: Blick in den öffentlich zugänglichen Bereich der Nasssammlung

      Fotos @ Museum für Naturkunde Berlin (überwiegend erstellt durch Carola Radke und Reinhold Leinfelder)


      Und hier noch das Gedicht, welches ich ganz wunderlich zur Eröffnung rezitierte. Es stammt von meinem Coach Joachim Ringelnatz. Ich hab ihn sozusagen zu unseren Themen, also zu biologischer Vielfalt auch in wenig erforschten Biotopen, zu Populationsdynamik, zu Aussterbeereignissen und, ja, auch zu Nasssammlungen befragt. Hier seine Antwort:

      Wunderland:

      Überall ist Wunderland
      Überall ist Leben
      Bei meiner Tante im Strumpfenband
      wie irgendwo daneben.
      Überall ist Dunkelheit.
      Kinder werden Väter
      Fünf Minuten später
      Stirbt sich was für einige Zeit
      Überall ist Ewigkeit.

      Wenn du einen Schneck behauchst,
      schrumpft er ins Gehäuse
      wenn du ihn in Kognak tauchst,
      sieht er weiße Mäuse

       

      Dies ermutigte mich zu einer näheren Aussage im ganz aktuellen Kontext. Ob ich richtig verstanden habe, weiß ich nicht, hier ist jedenfalls meine "Übersetzung" 

      Das Museum ist ein Wunderland
      denn überall ist Leben
      im Ostflügel, im Berliner Sand
      wie überall daneben
      Überall ist Evolution
      und der Mensch ist Täter
      schon 5 Jahre später
      Stirbt was aus, oh welch ein Hohn
      durch menschgemachte Selektion

      Studier den Fisch in Alkohol
      lern' Neues, denn das wäre
      für deine Zukunft sehr zum Wohl
      sonst siehst du nur Schimäre

       

      Übrigens, Sie können einen Ringelnatz auch im Ostflügel bewundern, denn Ringelnatz heißt in der Seemannssprache nichts anderes als Seepferdchen. 

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      Weitere Informationen:

      Vorwort der aktualisierten Ostflügelbroschüre:

      65 Jahre nach der katastrophalen Bombardierung des Museums für Naturkunde Berlin im Jahr 1945 ist es ein wunderbares Gefühl, die Eröffnung seines wieder aufgebauten Ostflügels erleben zu können. Vergessen sind alle Schwierigkeiten, die Anläufe, aus denen dann doch nichts wurde, die finanziellen Zwänge, die Verzögerungen und unerwarteten Herausforderungen. Die Verantwortlichen werden künftig angesichts der hohen Sicherheitsstandards im neuen Sammlungsflügel wieder ruhiger schlafen können, in der Gewissheit, dass die dortigen Sammlungen unter konservatorischen und sicherheitstechnischen Bedingungen untergebracht sind wie es sie am Museum noch nie gab und wie es sie in Naturkundemuseen weltweit nur ganz selten gibt. Das ganz Besondere am neuen Sammlungsflügel geht freilich weit darüber hinaus.

      Die hohe wissenschaftliche Bedeutung der dort untergebrachten sogenannten „Nass-Sammlungen“, der in Alkohol konservierten Präparate des Museum, skizzieren die hier folgenden Seiten. Wie hoch diese wissenschaftliche Bedeutung ist, lässt sich daran ermessen, dass der Start zum Wiederaufbau des Ostflügels eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Aufnahme des Museums in die Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz im Jahr 2009 war.
      Unsere Nass-Sammlungen sind indessen mehr als nur wissenschaftlich bedeutend; sie sind auch von höchstem wissenschafts- und kulturhistorischem Wert. An ihnen, wie auch an den anderen Sammlungen des Museums, lassen sich bedeutende Entwicklungen in der Geschichte der Wissenschaft ablesen – von den ersten naturkundlichen Sammlungen im 17. und 18. Jahrhundert über die wissenschaftliche Erschließung der deutschen Kolonie am Übergang des 19. zum 20. Jahrhundert bis zu den eingeschränkten wissenschaftlichen Möglichkeiten in den Zeiten des Kalten Krieges. Der neue Sammlungsflügel ist daher auch die Schutzhülle um einen nationalen kulturellen Schatz. Von den Nass-Sammlungen geht zudem eine emotional-ästhetische Faszination aus, die den Betrachter in ihren Bann zieht. Ich bin deshalb überzeugt, dass die im Erdgeschoss der Öffentlichkeit zugänglichen Sammlungen zu den größten Attraktionen des Museums, wahrscheinlich sogar Berlins gehören werden.

      Dass es gelungen ist, den Ostflügel in den Museumsrundgang einzufügen, obwohl wir es bei den Nass-Sammlungen mit großen Mengen brennbarer Flüssigkeit zu tun haben, gehört mit zu den erfreulichsten Aspekten des Bauprojekts. Dem Publikum bietet sich damit ein authentischer Einblick in unsere Forschung. Was der Besucher sieht, ist keine inszenierte Ausstellung, kein „Wir machen mal so, als sei das ein Sammlungsraum“, sondern tatsächlich eine echte Sammlung, die täglich für wissenschaftliche Zwecke genutzt wird – ein weiterer Schritt, unseren Museumsbesuchern einen Eindruck davon zu vermitteln, dass das Museum nicht nur ein Ausstellungsort, sondern auch – und eigentlich vor allem – eine international bedeutende Forschungseinrichtungen ist, mit einer der weltweit größten Sammlungen.

      Nicht übersehen werden sollte, dass der neue Sammlungsflügel auch ein architektonisches Meisterwerk ist, ein Meisterwerk, das die selbe Philosophie verfolgt, wie sie für unsere Ausstellungen gilt: Dort, wo etwas fehlt, beispielsweise ein Knochen bei einem ausgestellten Dinosaurier, wird das fehlende Teil ergänzt, aber dabei so gestaltet, dass erkennbar bleibt, was echt, was ergänzt ist. Im Fall des Ostflügels gilt dies, wie auf Seite 10 dargelegt, für die Fassade. Eine für das Museum besser geeignete Fassade kann ich mir nicht vorstellen!

      Ein Detail noch zum Schluss: Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass einerseits das Museum für Naturkunde jenes Berliner Museum war, das nach dem II. Weltkrieg als allererstes seine Pforten wieder öffnete, sein zerbombter Ostflügel andererseits am Ende als „letzte Kriegsruine Berlins“ tituliert werden musste. Diese Scharte ausgewetzt zu haben, gehört für mich zu den erfreulichsten Ereignissen des Jahres 2010! Diesen Erfolg im Rücken gilt es nun, mit Schwung und Engagement an die weiteren Schritte der Sanierung des wunderschönen Museumsgebäudes zu gehen. Was ursprünglich wie ein Fass ohne Boden wirkte, wandelt sich nun, nach der Renovierung von Teilen der Ausstellungsräume und der Wiedererrichtung des Ostflügels, zunehmend zu einer lösbaren Aufgabe, die Fahrt aufnimmt. In diesem Zusammenhang gilt unser besondere Dank allen an der Errichtung des neuen Sammlungsflügels Beteiligten: den Bauenden, der Humboldt-Universität als Bauherrin, den beteiligten Senatsverwaltungen, den Zuwendungsgebern bei Bund und Land, dem Wissenschaftsrat, dem Architekten, dem Statiker, der Bauleitung und der Projektsteuerung.

      Reinhold Leinfelder, im Sommer 2010

      Montag, 6. September 2010

      200 Jahre Museum für Naturkunde Berlin - ein Grund zum Feiern

      Atemberaubende Einblicke: Jubiläumsausstellung und Einweihung des neuerrichteten Ostflügels zum 200. Geburtstag des Museums für Naturkunde!


      Wir schauen auf 200 Jahre Forschen, Sammeln, Bewahren und Vermitteln zurück. Aus diesem Anlass präsentieren wir vom 14.9.2010 bis 28.2.2011 die Sonderausstellung "Klasse, Ordnung, Art – 200 Jahre Museum für Naturkunde". Mit Objekten, Bildern und Dokumenten wird die bewegte Geschichte des Museums im Kontext von wechselnden politischen Verhältnissen und geistigen Strömungen vorgestellt.

      Die Krönung der aktuellen Geschichte des Museums ist am 14.9.2010 die Einweihung des neuerrichteten Sammlungsflügels – einem der weltweit modernsten Sammlungsgebäude für naturkundliche Nass-Sammlungen. Über eine Million Objekte der zoologischen Sammlungen werden Dank einer ausgeklügelten Klimatisierungs- und Brandschutztechnik so optimal und sicher untergebracht wie nie zuvor. Dank seiner herausragenden Sicherheitstechnik ist der Sammlungsbau für unsere Besucher im Erdgeschoss zugänglich und verspricht einen atemberaubenden Einblick in eine unserer Forschungssammlungen.

      In der Jubiläumswoche vom 14.9.2010 bis 19.9.2010 bieten wir ein buntes Programm mit Theater, Führungen, Vorträgen und einem Kinder- und Familienfest.

      Herzlich Willkommen, Ihr Reinhold Leinfelder



      Einführung:
      Einblick in den Ostflügel, hier
      noch ohne Sammlungsobjekte

      200 Jahre Museumsgeschichte – ist ein Haus wie das Museum für Naturkunde ein Bollwerk in der Brandung der Schnelllebigkeit und des Vergessens? Ein Ort des Innehaltens und der Entschleunigung? Ein Garant für Kontinuität und Nachhaltigkeit? Oder ist es doch ein Treiber für die Wissenschaft, für Forschungsinnovation, für die öffentliche Diskussion aktuellster wissenschaftspolitischer Themen, ja gar für die Transformation unserer Gesellschaft? Die Geschichte des Museums über zwei Jahrhunderte, aber auch die Entwicklung gerade in den letzten fünf Jahren zeigt, dass das eine das andere nicht ausschließen muss, sondern kongruent zusammenpasst und komplementär zusammengehört. Das Museum für Naturkunde bürgt für Vielfalt und Evolution, auch in seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Themen. Es hat Katastrophen und Krisen überstanden, wurde davon in Mitleidenschaft gezogen,
      ist aber auch daran erstarkt.

      Wissenschaft ist ein hohes Gut – wir leben heute angeblich in einer Wissensgesellschaft, in der Wissen unsere Schlüsselressource ist, in der die Ungleichheit des Wissens eine Hauptherausforderung darstellt und in der nicht die Politik, sondern nur eine wissensbasierte Kultur viele soziale und ökonomische Probleme lösen kann. Doch wissensbasierte Gesellschaften sind nichts Neues. Auch zur Gründungszeit des Museums, damals als integrativer Teil der Berliner Universität, sollte die Gesellschaft wissensbasiert werden, Wilhelm von Humboldt, der wesentlich an der Gründung beteiligt war, steht dafür. Aufklärung, Industrialisierung, Informationszeitalter, all dies wäre ohne Wissen nicht entstanden. In welcher Weise Wissenschaft und Gesellschaft zusammen- oder auch gegeneinanderspielten, wie Wissenschaft einerseits unabhängig, andererseits doch auch durch den gesellschaftlichen Zeitgeist immer wieder geprägt ist, auch dies prägt die Geschichte des Museums für Naturkunde. Interessant ist auch, wie heute Wissen generiert wird und welche Rolle Museen wie das Museum für Naturkunde dabei spielen.

      Rund 30 Millionen Objekte, als ob das nicht schon ausreichend Material zum Beforschen wäre! Nein, die naturkundlichen Forschungssammlungen Deutschlands, Europas und der ganzen Welt verstehen sich heute als globale Forschungsinfrastruktur, in der alle Daten rund um die Sammlungsobjekte zu einer gewaltigen Wissensdichte, zu einem hochauflösenden Bild unserer Natur und ihrer Entwicklung führen, welches als Forschungsgrundlage für Szenarien, Modelle und Prozessabläufe der Natur unabdingbar geworden ist.  Ob es um die Invasion von gebietsfremden Arten, die Veränderung der biologischen Vielfalt durch Klimaprozesse, um bestmögliche Dimensionierung von Schutzgebieten in Afrika oder um das Auffinden geeigneter Populationen für die Wiedereinbürgerung lokal ausgestorbener Arten wie den Lachs in der Elbe geht, sammlungsbasierte Naturkundemuseen liefern die wissenschaftlichen Grundlagen dafür.

      Mit unseren Sammlungen, die aus der ganzen Welt stammen, wurde in den letzten 200 Jahren unter hohem Ressourceneinsatz immenses Wissen erarbeitet und es wird weiter generiert. Neue Aufsammlungen sowie deren Bearbeitung werden heute immer in Kooperation mit den Partnern vor Ort durchgeführt. Heute geht es aber auch darum, das in 200 Jahren erarbeitete sammlungsbasierte Wissen auch wieder global zur Verfügung zu stellen; wir  arbeiten sozusagen an der globalen Repatriierung dieses Wissens. Auch die Politik hat die entsprechende wissenschafts-, bildungs- und entwicklungspolitische Bedeutung des Museums für Naturkunde erkannt. Ein erfreuliches Beispiel dafür ist die internationale Eröffnung des UN-Jahres der Biodiversität im Januar 2010 durch die deutsche Bundeskanzlerin sowie hochrangige Regierungs- und UN-Repräsentanten.

      Wissensbasierte Politik kann jedoch nur gelingen, wenn sie von der Bevölkerung mitgetragen wird. Dies ist vielleicht die nobelste Aufgabe auch unseres Hauses: Wir wollen unseren Besuchern die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung, aber auch deren Zuständigkeitsgrenzen für unsere Gesellschaft erläutern und Vertrauen schaffen. Dazu schließen wir die Wertschöpfungskette von sammeln, forschen und vermitteln. Unsere Ausstellungen als öffentliche Publikation des durch unsere Forschung gewonnenen Wissens, der öffentlich zugängliche Teil des wieder aufgebauten Ostflügels als Beispiel für unsere Hauptforschungsinfrastruktur, den Sammlungen, sowie unsere vielen partizipativen Aktivitäten zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft setzen diesen Anspruch um, denn wir sind uns in einem vollkommen sicher: Wir lieben nur, was wir kennen. Und was wir lieben, wollen wir auch für unsere nachkommenden Generationen bewahren. Hier schließt sich der museale Kreis von historischem Archiv, hochaktueller Forschungsstätte und zukunftsorientiertem Wissenstransfer zur Errichtung einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Gesellschaft.

      Reinhold Leinfelder, im Sommer 2010
      (gekürzte Version des Vorworts aus dem Begleitbuch zur Ausstellung)

      > Weitere Informationen zum Begleitbuch


      Veranstaltungshinweise:

      Feiern Sie mit uns das 200-jährige Bestehen unseres Hauses in unserer Jubiläumswoche vom 14. bis 19. September 2010.
      Viele Angebote, Aktionen und Überraschungen erwarten Sie. Wir bieten ein vielfältiges Programm für Erwachsene und Kinder. Museumsfest am Wochenende.

      14.-17.9.: Sonderöffnungszeiten jeweils bis 20.00 Uhr, stündlich kostenfreie Führungen durch die Jubiläumsausstellung und die neue Schausammlung im Sammlungsflügel.

      15.9.: Jubiläumsvortrag 20.00 Uhr:
      Prof. Dr. Reinhold Leinfelder, Generaldirektor:
      Die Rolle der Museen beim Aufbau einer Wissensgesellschaft

      18.9.: Sonderöffnungszeit bis 22.00 Uhr bei freiem Eintritt,
      11.00-18.00 Uhr: Kinderfest

      19.9.: Sonderöffnungszeit bis 20.00 Uhr bei freiem Eintritt
      20.00 Uhr: Papageno packt aus. Konzerttheater für Erwachsene und Kinder.

      Weitere Sonderveranstaltungen zum Jubiläum sind im Kalender veröffentlicht.

      Samstag, 4. September 2010

      Ach du lieber Darwin - warum hat Sarrazin dich nicht gelesen?

      von Reinhold Leinfelder

      Es darf vermutet werden, dass Thilo Sarrazin Charles Darwins Hauptwerk nicht gelesen hat. Und zugegeben, ich habe umgekehrt Sarrazins Buch nicht komplett gelesen. Es hat mir schon genügt, was ich am Freitag vor dem offiziellen Erscheinen in einem renommierten Berliner Buchladen sah: meterhohe Stapel des Buchs im Eingangsbereich, vor den Kassen und in den Leseecken. Ja, und das lange Reinlesen im Buchladen sowie die Vorabpublikationen waren genügend aufschlussreich. Warum aber erwähne ich dies hier, in diesem Blog geht es doch um Dinge rund um die Evolutionstheorie? Nun, Sarrazin beruft sich bekanntermaßen in diesem Buch auf Selektion, Genetik, Vererbung von Intelligenz usw.. Darwin und die daraus abgeleitete und ständig modernisierte Evolutionstheorie hat er dabei jedoch überhaupt nicht verstanden, wie er sich nun vielfach nachweisen lassen musste. Statt dessen argumentiert er mit einem Sozialdarwinismus (eigentlich richtiger einem Spencerismus) schlimmster Sorte.

      Für diejenigen, die davon nicht überzeugt sein sollten, oder die "Dysgenik"-Argumentation Sarrazins nicht kritisch finden, sei nachfolgend nur auf wenige, exemplarische Zeitungsartikel verwiesen, die vielleicht ein klareres Bild ergeben.

      Das im Kontext des Darwin-Blogs wirklich Ärgerliche an Sarrazins "Thesen" ist jedoch, dass auch nach einem (Darwin-)Jahr intensiver Diskussion um Bedeutung, Übertragbarkeit und Grenzen der Erklärungsfähigkeit der biologischen Evolutionstheorie, sowie nach vielfältigen Klarstellungen, dass Mensch und menschliches Verhalten nicht allein "biologistisch" erklärbar sind (was auch von differenziert vorgehenden Soziobiologen und Evolutionspsychologen so gesehen wird), nun sogar eine quasi-Eugenik-Debatte wieder salonfähig wird. Wie hoch oder niedrig die Defizite einer deutschen Migrationspolitik auch sein mögen, was ich an dieser Stelle nicht weiter diskutieren möchte - mit derartiger pseudowissenschaftlicher Polemik und derart fehlerhafter Datenverwendung wie sie Herr Sarrazin betreibt, verhindert man nicht nur eine differenzierte Debatte um Integration, sondern untergräbt letztendlich auch das Vertrauen in wissenschaftsbasiertes Arbeiten. Herr Sarrazin fördert damit m.E. indirekt auch wieder Vorbehalte gegen die Wissenschaft und verstärkt den weitverbreiteten Wissenschaftsskeptizismus. Auch dies ist ein Grund, warum nachfolgend einige Zeitungsausschnitte aufgeführt werden. Mir ist klar, dass Auszüge aus Artikeln ggf. nicht den Tenor des Gesamtartikels wiedergeben könnten, daher werden auch, sofern vorhanden, die Links zu den Online-Versionen der Artikel angegeben. Ich empfehle diese auch zu lesen.

      Christian Geyer war wohl der erste, der den Sarrazinschen Biologismus beim Namen nannte. Er schrieb dazu zu Sarrazins Thesen unter dem Titel "So wird Deutschland dumm" in der FAZ vom 26.8.2010.
      Auszüge: "... Tatsächlich ist das Elementare bei Sarrazin das Biologische. Kulturell ist bei ihm ein Deckwort für genetisch. Hat man dies begriffen, liest man Sarrazins Sorge um die „kulturelle Identität“, die „kulturelle Substanz“ und den „Volkscharakter“ Deutschlands mit anderen, den richtigen biologischen Augen. Obwohl halb verschwiegen, tritt die These in seinem Buch klar hervor: Die islamische Immigration nach Deutschland muss gestoppt werden – und zwar aus „letztlich“ genetischen Gründen. ... Das ganze Buch liest sich wie ein antimuslimisches Dossier auf genetischer Grundlage. Wie ein verdeckt operierender Detektiv versucht Sarrazin, aus „elementarer Sicht“ belastendes Material gegen Türken, Afrikaner und Araber zusammenzustellen. Um den Leser für die Genetik der Intelligenz zu gewinnen, legt Sarrazin die jüdischen Ursprünge der Intelligenzforschung und deren Verbot durch die Nazis dar. ... Jedes Kapitel bietet eine weitere Facette des biologistischen Panoptikums. „Das Problem ist nicht, dass die Zahl der Nachfahren von Menschen mit hoher Bildung von Generation zu Generation schrumpft“, schreibt Sarrazin. „Das wäre nicht so wichtig, wenn alle Menschen gleich begabt wären, dann wäre Bildung nämlich eine reine Erziehungsfrage. Da Bildungsgrad und erbliche Intelligenz aber in einem befruchtenden Zusammenhang stehen, muss es mit der Zeit abträglich für das intellektuelle Potential der Bevölkerung sein, wenn Menschen mit hohem Bildungsgrad andauernd eine unterdurchschnittliche und Menschen mit niedrigem Bildungsgrad andauernd eine überdurchschnittliche Fertilität haben.“

      > zum ganzen Artikel

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      Interview mit dem Genetiker Markus Nöthen im Kölner Stadtanzeiger vom 31.8.2010:
      „Es gibt keinen Volks-IQ“. Der Bonner Genetiker Markus Nöthen betont, dass Lernfähigkeit keine Frage der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozioalen Gruppe ist.

      Auszug: "Herr Professor Nöthen, Thilo Sarrazin beschreibt Migranten-Gruppen wie Araber oder Türken als bildungsfern und lernschwach und leitet diese Eigenschaften auch von genetisch vererbten Anlagen her. Sind solche Thesen wissenschaftlich haltbar?
      MARKUS NÖTHEN: Nein. Sarrazin bezieht sich auf Studien, nach denen 50 bis 80 Prozent der Intelligenz genetisch begründet seien. Fest steht, dass Intelligenz zu gewissen Teilen vererbt werden kann, es durch die Vielzahl der beteiligten Gene aber bei Nachkommen immer wieder zu neuen Kombinationen kommt. Weniger intelligente Eltern können hochintelligente Kinder haben und umgekehrt. Die Bandbreite ist riesengroß. Außerdem spielen die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedingungen, in denen Kinder aufwachsen, für die Intelligenz ebenfalls eine wichtige Rolle. Wenn Migranten aus ländlichen Gebieten ohne nennenswerte Bildungsangebote zu uns kommen, ist deren Bildungstand logischerweise im Durchschnitt eher gering. Aber über die durchschnittliche Intelligenz dieser Gruppe sagt das überhaupt nichts aus. Sie wird eine ähnliche Zusammensetzung aus intelligenten und weniger intelligenten Mitgliedern aufweisen wie die Bevölkerung insgesamt."

      > Zum ganzen Artikel


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      Frank Schirrmacher schrieb am 1.9.2010 in der FAZ:
      Sarrazins Quellen. Biologismus macht die Gesellschaft dümmer
      Als hätte es alle Erfahrungen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht gegeben: Im Innersten seines Buches hat Thilo Sarrazin eine vulgärdarwinistische Gesellschaftstheorie versteckt. Der Autor verschleiert die Terminologie und geht fahrlässig mit seinen Quellen um.

      (Auszüge:".... Ein Kernsatz des Buches lautet: „Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche, natürliche Zuchtwahl im Sinne von ,survival of the fittest‘, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.“ .... Das sind unerhörte Sätze. Und Sarrazin weiß das. Es ist schlichtweg unseriös, wie fahrlässig er mit seinen Quellen umgeht.
      Damit der Kunde nicht merkt, wohin die Reise mit Sarrazin geht ... Sarrazin meint faktisch „Entartung“ – daran kann angesichts der Quelle kein Zweifel bestehen –, aber er nennt das Wort nicht. So geht es einem immer wieder mit diesem Buch. Es täuscht über seine Grundlagen. ... Sarrazin blendet eine jahrhundertelange, zum Teil verheerende wissenschaftliche Rezeptionsgeschichte darwinistischer Theorien aus und schließt an sie an, als seien sie Erkenntnis von heute. Damit es nicht auffällt, verschleiert er die Terminologie. ... ... Die Amerikaner, die 1914 mit der Diskussion einer Einwanderungspolitik auf erbbiologischer Grundlage begannen, haben dies bitter bereut .... "

      > zum ganzen Artikel.  (Link inzwischen inaktiv, siehe ggf. hier)
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      Adrian Kreye und Christian Weber schreiben in der Süddeutschen vom 2.9.2010 unter dem Titel "Gehirn und Erbse" zum Thema Intelligenz im Sarrazinschen Kontext: "Es gibt ja auch kein Strick-Gen: Thilo Sarrazin politisiert mit seinen Aussagen über erbliche Intelligenz wissenschaftliche Ungewissheiten. Und was ist überhaupt Intelligenz?"

      Auszüge: "... Und deswegen sind solche volkstümlichen Debatten kein Bildungserfolg, sondern ein Problem. Thilo Sarrazin hat in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" ein rhetorisches Minenfeld betreten. Er führt die Naturwissenschaften als Zeugen für seine gesellschaftspolitischen Thesen vor. ... "Es gibt keine Einbahnstraße vom Genom zur Persönlichkeit, sondern ein viele Aktivitätsebenen umspannendes Wirkungsnetz", kommentiert der Berliner Psychologe Asendorpf. Dass ein Gen direkt auf eine Persönlichkeitseigenschaft wie Intelligenz wirke, sei ähnlich abwegig wie die Annahme, es müsse sich ein Strick-Gen im menschlichen Genom verbergen, nur deshalb, weil fast ausschließlich Frauen diese Tätigkeit ausüben und das Geschlecht sich nun mal in aller Regel rein genetisch entscheide. ... im Übrigen gibt es für die Warner vor dem intellektuellen Untergang des Abendlandes noch eine interessante Nachricht: In den westlichen Kulturen nahm zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts der durchschnittliche IQ beständig zu. Und dieser Zuwachs von etwa drei Punkten pro Jahrzehnt war zu schnell, um ihn genetisch zu erklären. Vermutlich beruhte dieser sogenannte Flynn-Effekt auf den sich ständig verbessernden Lebensbedingungen von Schwangeren und Kleinkindern, wohl deshalb korreliert er auch mit der ständig wachsenden Körpergröße.
      So wissenschaftlich differenziert argumentiert Thilo Sarrazin also gar nicht. Er führt dann eben doch Charles Darwin und Gregor Mendel ins Feld, deren genetische Grundlagenforschungen aus dem 19. Jahrhundert zunächst einmal den Erbsen und den Schnabeltieren galten. Die großen Namen der modernen Genetik und Evolutionsbiologie, Steven Pinker, George Church oder Craig Venter, die Debatten die sie auslösten, die fehlen. Denn die Unsicherheiten der Wissenschaft passen nicht in die schlichte Rhetorik von "Deutschland schafft sich ab"."

      > zum ganzen Artikel.
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      Interview mit der Intelligenzforscherin Elsbeth Stern, auf die sich Sarrazin beruft (FAZ vom 2.9.2010): Jeder kann das große Los ziehen. Thilo Sarrazin beruft sich für sein Programm der positiven Selektion auf die Lernforschung der Psychologin Elsbeth Stern. Sie lehnt diese Vereinnahmung ab. Es mache keinen Sinn, davon zu sprechen, Intelligenz sei zwischen 50 und 80 Prozent erblich.

      > zum ganzen Interview
      (Link ist inzwischen deaktiv, > hier kostenpflichtig)
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      Der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland hat am 2.9.2010 ebenfalls deutlich die Vereinnahmung der Evolutionswissenschaften und Genetik durch Sarrazin zurückgewiesen:
      VBIO: Thilo Sarrazin hat grundlegende genetische Zusammenhänge falsch verstanden.

      Auszüge: "... In Bezug auf die Aussagen Sarrazins zur Genetik verwehrt sich der Verband Biologie, Biowissenschaften und Biomedizin in Deutschland (VBIO e. V.) entschieden gegen jede politische Instrumentalisierung biologischer Fakten. – Sei es durch Thilo Sarrazin selbst, sei es durch andere Teilnehmer der derzeit laufenden öffentlichen und medialen Debatte. Die genetischen Thesen von Herrn Sarrazin sind nicht mit den modernen Erkenntnissen zur Evolutionsbiologie des Menschen vereinbar.
      Evolutionsbiologisch gesehen ist der Mensch eine der genetisch homogensten Spezies die es auf der Erde gibt. Im Vergleich zu anderen Spezies sind die Unterschiede zwischen Populationsgruppen sehr gering. Tatsächlich sind die Unterschiede innerhalb von Populationsgruppen etwa 5-fach höher als zwischen ihnen.
      .... Intelligenz wird von vielen Genregionen beeinflusst, die in jedem Individuum neu zusammengewürfelt werden. Das kann zu großen Unterschieden innerhalb einer Gruppe führen, wirkt aber gleichzeitig im Vergleich zwischen Gruppen wie ein Puffer. Wissenschaftlich formuliert: die Varianz innerhalb der Gruppe übersteigt die Unterschiede zwischen Gruppen bei weitem. Selbst wenn es zu lokalen Veränderungen der Häufigkeit von Genvarianten kommen sollte (wie z.B. durch Inzucht in Alpentälern), würden diese Verteilungsunterschiede im Falle von Rückkreuzungen schnell wieder ausgeglichen (dafür reicht bereits ein 1%-iger Genfluss). Es ist daher davon auszugehen, dass jede Volksgruppe grundsätzlich das gleiche genetische Potential für Intelligenzleistungen hat."

      Zum ganzen Artikel
      Die VBIO-Stellungnahme wurde auch in Tagesspiegel online publiziert.
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      Allan Posener fragt sich in der WELT (2.9.10) in einem lesenswerten Artikel sogar, warum Sarrazin antisemitische Stereotypen transportiert.
      > zum Artikel
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      Und zum Schluss sei noch auf den sehr dezidierten, m.E. aber durchaus gerechtfertigten Artikel im aktuellen SZ-Magazin (3.9.2010) hingewiesen, in dem sich Andreas Bernard u.a. überaus wundert, warum Spiegel und Bild derart lange Passagen dieses Buchs abgedruckt haben und damit eine öffentliche Diskussion auslösten, die das Buch noch vor Erscheinen zum Verkaufsschlager machte (Artikel leider nicht online verfügbar).

      Auszüge: "... In einem PISA-Test für Sachbücher läge Deutschland schafft sich ab ungefähr auf dem Platz von Bremen, was seine Lesbarkeit und die Sorgfältigkeit des Lektorats betrifft. Dieses Buch ist ein wucherndes Gebilde: in seiner Fehlerhaftigkeit überraschend bildungsfern, in seiner Dickleibigkeit fast adipös, dabei allerdings so fortpflanzungsfreudig, dass der Argumentatsionskeim eines Kurzreferats zu einem Riesenwälzer angewachsen ist. Nimmt man noch die Perspektive des Erzählers hinzu, die es an Verengung mit dem Augenschlitz einer Burka lässig aufnehmen kann, gleicht Thilo Sarrazins Buch eigentlich exakt seinem Feindbild: ein übergewichtiger, fertiler Religionsfanatiker. .... Ein Buch prägt also die gegenwärtige Diskussion, das in Vokabular und Argumentation nahtlos an die rassenbiologischen STandardwerke der Zeit um 1900 anschließt. Man müsste in den Traktaten eines Alfred Ploetz, Erfinder des Wortes "Rassenhygiene", nur das Wort "slawisch" durch "muslimisch" und "Rasse" durch "Glauben" ersetzten und hätte dieselben Hypothesen. ... Seit 70 Jahren diskreditierte Scchlagwörter wie "Eugenik" etwa kommen kein einziges Mal vor. DEr Seltene und daher ungefärdete Gegenbegriff der "Dysgenik" fällt dagegen ständig, in dem Zusammenhang, dass die ungehinderte Fortpflanzung muslimischer Einwanderer zur Schädigung des deutschen Erbguts führt.
      Es gäbe eigentlich nur eine angemessene Reaktion auf Deutschland schafft sich ab: Schweigen"
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      Und schweigen wird der Ach du lieber Darwin-Blog zum Thema Sarrazin nun auch wieder.

      (Link-Fix vom27.4.2016)